Frage an Martin Schulz von Ulrich O.
Sehr geehrter Herr Schulz,
als Sozialkundelehrer obliegt mir die Aufgabe, Schüler an die Komplexität der Politik heranzuführen. Als prinzipieller Verfechter des europäischen Ideals versuche ich auch, meine Schüler für Visionen wie von Dr. Ulrike Guerot zu begeistern.
Die tägichen Nachrichten jedoch machen mir dieses Ziel mehr als schwer.
- Wann verschlankt Europa endlich seine überbordenden Strukturen, wann findet der Wahnsinn der parallelen Sprachen sein Ende?
- Weshalb verlässt sich Europa auf die Überwachungs- und Grenzschutzagentur Frontex anstatt eine ehrliche Einwanderungspolitik umzusetzen?
- Weshalb wird das Geld für den jährlichen "Wanderzirkus" (immerhin ca. 150 Mio Euro!) nicht in eine - wenigstens humanitär unverzichtbare - Zwischenlösung wie die Mare Nostrum-Initiative gesteckt?
Zur Erinnerung: Pro gerettetem Flüchtling - pro gerettetem MENSCHENLEBEN - fallen Kosten von 740€ an. Sind uns Europäern 740 Euro zu viel Geld für das Leben eines Nicht-Europäers?
Dass Mare Nostrum strategisch auch von Schlepperbanden genutzt wurde und wird steht außer Zweifel - doch wollen wir wirklich eine Festung Europa?
- Was tut die EU gegen die Ursachen dieser Migrationsbewegungen? Weshalb fischen nach wie vor europäische Großtrawler in den afrikanischen Gewässern und entziehen Afrikas Bevölkerung ihre Lebensgrundlage? Weshalb verkauft Europa seine subventionierten Lebensmittel an afrikanische Märkte - 2/3 unter dem Preis der örtlichen Kleinbauern?
Weshalb zwingt (!) Europa Afrika zu einem Freihandelsabkommen, dessen einzige Aufgabe es ist, einseitig den Profit europäischer Firmen zu sichern?
All diese wirtschaftlich motivierten Verträge, Abkommen und Vorgehensweisen tragen große Mitschuld an den Flüchtlingsströmen, die Richtung Europa wandern.
Damit zeigt sich Europa als außenpolitischer Unrechtstaat par Excellence.
Was also werden Sie, wird das EU-Parlament, dagegen tun?
Mit freundlichen Grüßen,
U. O.
Sehr geehrter Herr O.,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Ich kann Ihnen versichern, dass sich das Europäische Parlament für den Schutz der Flüchtlinge an den Außengrenzen der Europäischen Union weiterhin aktiv einsetzt. Eine umfassende und humane Migrationspolitik ist eine der Kernaufgaben der neuen Legislaturperiode.
Nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 hat das Europäische Parlament im Plenum über die Flüchtlingsproblematik debattiert und am 23. Oktober 2013 eine "Entschließung zu dem Zustrom von Migranten im Mittelmeerraum, insbesondere den tragischen Ereignissen vor Lampedusa" verabschiedet. In dieser Resolution, die den offiziellen Standpunkt des Europaparlaments darstellt, aber keine rechtlich bindende Wirkung hat, vertreten die Abgeordneten die Auffassung, "dass Lampedusa einen Wendepunkt für Europa markieren sollte und dass weitere Tragödien nur durch ein gemeinsames Vorgehen verhindert werden können, das auf Solidarität und Verantwortung beruht und sich auf gemeinsame Instrumente stützt".
In der Zwischenzeit startete Italien die Aktion "Mare Nostrum" und überwacht seitdem stärker das betroffene Seegebiet. Zwischen Malta, Sizilien und der lybischen Küste sind mehr Schiffe und Flugzeuge im Einsatz wie auch Drohnen und Helikopter mit Infrarotsichtgeräten. Seit dem 1. November unterstützt die Europäische Union mit der Operation Triton unter dem Dach der europäischen Grenzschutzagentur Italien bei der Sicherung der Seegrenzen und der Rettung von Bootsflüchtlingen.
Wie ich mehrmals betont habe, muss die Europäische Union zur Kenntnis nehmen, dass Europa ein Einwanderungskontinent ist. In manchen Nachbarregionen bricht die staatliche Ordnung zusammen und die Menschen kommen zu uns aus purer Not. Dann müssen wir helfen.
Die Europäische Union sieht sich in der Pflicht, Lehren aus den tragischen Ereignissen im Mittelmeer zu ziehen. In meiner Rede auf der Gedenkveranstaltung für die 360 Toten des Unglücks vor Lampedusa habe ich die Grundprinzipien der gemeinsamen Europäischen Flüchtlingspolitik formuliert: ein legales Einwanderungssystem mit klaren Kriterien, Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und ausreichende Mittel für die Entwicklungspolitik.
Konkrete Maßnahmen, um der Flüchtlingsproblematik im Heimatland entgegenzuwirken, bestehen bereits auf EU-Ebene. Hilfsprogramme wie EuropeAid, welches von der Europäischen Kommission verwaltet wird, sollen Entwicklungsländer bei der Bekämpfung von Armut und dem Aufbau einer eigenen Wirtschaft sowie eines funktionierenden Staatsapparats unterstützen, um so die Lebensqualität in den betroffenen Ländern zu steigern und den Menschen vor Ort eine Perspektive zu bieten.
Weitere Mittel zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation vor Ort sind die Freihandelsabkommen mit Afrika. So hat die Europäische Union im März 2013 Verhandlungen mit Marokko über ein vertieftes und umfassendes Freihandelsabkommen aufgenommen. Vorgespräche über ähnliche Abkommen haben auch mit drei weiteren Staaten des südlichen Mittelmeerraums begonnen, nämlich Ägypten, Jordanien und Tunesien.
Ich bin zuversichtlich, dass die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker Lösungen finden wird. Die Kommission wird in enger Abstimmung mit dem Europäischen Parlament das Thema Migration ganz oben auf der Tagesordnung setzen. Darüber hinaus gibt es jetzt auch einen Migrationskommissar und damit haben wir eine echte Chance für einen Reformansatz.
Über die weiteren Aktivitäten des Europäischen Parlaments im Bereich Einwanderung können Sie sich regelmäßig auf http://www.europarl.europa.eu/ informieren.
Zu der Frage des Sitzes des Europaparlaments verabschiedeten die Europaabgeordneten am 20. November 2013 eine Entschließung, in der sie für das Europäische Parlament das Recht einfordern, selbst darüber zu entscheiden, wo und wann es tagt. Diesen Anspruch wollen sie durch ein Verfahren zur Änderung der EU-Verträge durchsetzen, denn nach den bisher geltenden Regeln können nur die EU-Mitgliedstaaten – und zwar nur einstimmig – diese Entscheidung treffen.
Artikel 341 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union besagt, dass der Sitz der Organe der Union "im Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt" wird. Protokoll Nr. 6 der EU-Verträge beinhaltet des Weiteren, dass das "Parlament seinen Sitz in Straßburg hat", wo die 12 monatlichen Plenartagungen stattfinden sollen.
In der angenommenen Entschließung stellen die Abgeordneten fest, dass das Parlament "effizienter und kosteneffizienter arbeiten würde und es umweltfreundlicher wäre, wenn [sein] Sitz an einem einzigen Ort wäre".
"Für die EU-Bürger ist das fortgesetzte monatliche Pendeln zwischen Brüssel und Straßburg zu einem negativen Symbol geworden (...) - insbesondere in Zeiten der Finanzkrise, in denen die Ausgabenkürzungen der Mitgliedstaaten stark und schmerzhaft sind", so der Text des Beschlusses, der mit 483 Stimmen bei 141 Gegenstimmen und 34 Stimmenthaltungen angenommen wurde.
Allerdings muss eine Vertragsänderung von sämtlichen Mitgliedstaaten einstimmig angenommen werden.
Ich hoffe, dass diese Informationen Ihr Vertrauen in die Arbeit des Europäischen Parlaments stärken.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Schulz