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Martin Gerster
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Frage von Hannah K. •

Frage an Martin Gerster von Hannah K. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie

Sehr geehrter Herr Gerster,
ich bereite gerade ein Referat für die Schule vor mit dem Thema:
"Parteienstaat gegen Beteiligungsdemokratie?".
Mich würde interessieren was sie unter einem Parteinenstaat und unter einer Beteiligungsdemokratie verstehen und was sie für einen Standpunkt diesbezüglich vertreten.
Des weiteren wäre für mich interessant welche Form sie für Deutschland und das Bundesland Baden-Württemberg faktorisieren würden.
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Hannah

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Antwort von
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Sehr geehrte Frau Karrer,

herzlichen Dank für Ihre Frage, zu deren Beantwortung ich einen kleinen Ausflug in die Geschichte der politischen Begriffe unternehmen möchte. Mein Verständnis des „Parteienstaats“ geht von den Beiträgen des Staatsrechtlers und Bundesverfassungsrichters Gerhard Leibholz aus. Leibholz grenzte den Parteienstaat von der elitären „Honoratiorendemokratie“ früherer Tage ab, in der zumeist – ohnehin einflussreiche – Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gleichzeitig die politischen Interessen ihrer Region wahrnahmen. Wahlen waren in dieser Ära reine Persönlichkeitswahlen: Auf die spezifischen Anliegen von Wähler- und Interessengruppen konnten die Mandatsträger zwar (mehr oder weniger nach Belieben) eingehen, den Einfluss der Allgemeinheit auf die konkreten politischen Entscheidungen ihrer Repräsentanten schätzte Leibholz aber als eher gering ein.

Als Gegenmodell entwarf er sein Modell des Parteienstaats, den er als „rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie“ begreift. Damit ist gemeint, dass Parteien für ein Gemeinwesen vernünftigerweise notwendig sind, da sie die Bürger „erst organisieren und aktionsfähig machen. Sie schließen die Wähler erst zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammen und erscheinen so als das Sprachrohr, dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern zu können.“ Der Vorteil von Parteien liegt für ihn darin, dass durch sie der Wille der Bevölkerung direkt in die Politik Eingang findet und mit der Wahlentscheidung über Sachfragen statt über Personen abgestimmt wird. Mit der besonderen Betonung des „plebiszitären“ Charakters des Parteinstaates unterstrich Leibholz seine Vorstellung, dass alle innerparteilichen Prozesse konsequent dem basisdemokratischen Prinzip der Willensbildung unterworfen werden müssten, damit der „Parteienstaat“ richtig funktionieren kann.

Oder wie es der Politikwissenschaftler Richard Stöss zusammengefasst hat: „Nach Leibholz sind Parteien nicht nur Mitwirkende, sondern die maßgeblichen Träger der gesellschaftlich-politischen Willensbildung. Ihre Funktion als Vermittlungsinstanzen zwischen Gesellschaft und Staat können sie aber nur erfüllen, wenn sie sich ihrer staatspolitischen Aufgabe bewusst und konsequent demokratisch strukturiert sind“.

Natürlich ist Leibholz Parteienstaat (mit der gedachten Überschneidung von Volkswillen, innerparteilicher Willensbildung und staatlicher Umsetzung der so „kanalisierten“ Interessen) eine Idealvorstellung, die der Realität des politischen Lebens schon damals nicht entsprach und heute erst recht nicht mehr entspricht.

Realistischer betrachtet stellt sich der heutige Parteienstaat – ich zitiere hier wieder Richard Stöss (Quelle: http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/2000/2000-02-a-087.pdf ) – wie folgt dar: „Im Parteienstaat stellen die Parteien die dominierenden (allerdings nicht alleinigen) Träger der politischen Willensbildung dar, weil sie allein die Einheit von Volk und Staat Gewähr leisten. Sie wurzeln in der Gesellschaft, selektieren, bündeln und vertreten die Belange des Volkes, gestalten und verantworten die Politik des Staates und legitimieren sie gegenüber dem Volk. Ihr Einfluss beschränkt sich nicht nur auf die gewählten Staatsorgane, er erstreckt sich darüber hinaus auch auf die staatliche und kommunale Verwaltung, auf Kontrollinstanzen und auf öffentlich–rechtliche Einrichtungen“.

Sie sehen also, dass der Begriff „Parteienstaat“ begriffgeschichtlich etwas Positives war, wenngleich er heute gerne gebraucht wird, um zu unterstellen, die Parteien führten ein vom Willen der Bevölkerung abgekoppeltes Eigenleben und machten sich den Staat „zur Beute“. Bei aller berechtigten Kritik an Fehlentwicklungen innerhalb von Parteien, sehe ich gegenwärtig keine Organisationsform, die dem Anspruch besser gerecht wird, die unterschiedlichen und zunehmend vielfältigeren Einzelteile unserer Gesellschaft zu vernetzen, Probleme zu identifizieren und diese – in einem sehr komplexen Prozess der Abwägung und Kompromissfindung – zu lösen.

Damit wären wir beim Begriff der „Beteiligungsdemokratie“, den ich als Gegenbegriff zur „Zuschauerdemokratie“ verstehe. Letztere steht für das Phänomen sinkender Teilnahmebereitschaft der Bürger am demokratischen Prozess, sei es in Form von Wahlen oder anderer Partizipationsmöglichkeiten, wie beispielsweise der Mitarbeit in einer Partei oder der Bereitschaft, selbst für ein öffentliches Amt zu kandidieren. Eine generelle Politikverdrossenheit, wie sie ja gerade in Bezug auf die jüngere Generation beklagt wird, sehe ich allerdings nicht.

Natürlich haben klassische, organisationsgebundene Formen, politisch aktiv zu werden, tendenziell an Akzeptanz verloren, neue sind hinzugekommen. Gerade das Internet bietet eine große Bandbreite an – bislang noch zu wenig erschlossenen – Möglichkeiten, wie der Bürger mit seinen politischen Vertretern in Kontakt treten kann. Eine davon haben Sie genutzt, indem Sie über abgeordnetenwatch.de an mich geschrieben haben. Ein andere Möglichkeit, Bürgerinnen und Bürger wieder für die aktive Teilnahme am demokratischen Prozess zu gewinnen, sind Formen direkter Demokratie (Volksbegehren und Volksabstimmung), die ich auch auf Bundesebene prinzipiell für sinnvoll halte.

Insofern verstehe ich Parteienstaat und Beteiligungsdemokratie gar nicht als ein Gegensatzpaar. Wo sich der Bürger aus der aktiven Teilhabe zurückzieht, können Parteien ihrer Aufgabe als bereichsübergreifende Vermittlungsorganisationen im Prozess der politischen Willensbildung nicht nachkommen. Auf Bundes- und Landesebene plädiere ich deshalb für eine Beteiligungsdemokratie, in der sich die Bürger auch – aber eben nicht nur - über die Parteien als Teil des politischen Lebens verstehen und es engagiert mit gestalten.

Für weitere Fragen und Erläuterungen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Wenn Sie möchten schreiben Sie einfach an: martin.gerster@bundestag.de

Mit besten Grüßen

Martin Gerster

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