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Martin Gerster
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Frage von Dagny L. •

Frage an Martin Gerster von Dagny L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Gerster,

vor einigen Wochen habe ich in der ZEIT einen Artikel gelesen, der über das irische Modell der Bürgerversammlung berichtet. Mich fasziniert diese Idee, weil sie vielleicht eine Möglichkeit wäre, Interesse und Akzeptanz für die politische Arbeit zu stärken. Mich würde interessieren, ob es eine Partei in Deutschland gibt, die solche Alternativen diskutiert bzw. befürwortet. Deswegen zwei Fragen, die sie einfach mit Ja oder Nein beantworten können. Sollten Sie Lust und Zeit haben, würde ich mich aber natürlich auch über eine Begründung freuen.
• Gibt es in der SPD Bestrebungen eine Art Bürgerversammlung ähnlich dem irischen Modell auch in Deutschland einzuführen?
• Würden Sie persönlich, sollte es zu einer Abstimmung über diese Frage kommen, mit Ja stimmen?

Vielen Dank und freundliche Grüße
Dagny Locher

Die irische Bürgerversammlung funktioniert folgendermaßen: 99 Iren, ganz normale Menschen, zufällig ausgewählt, tagen ein Jahr lang, ein Wochenende im Monat. Sie sprechen mit Experten, Betroffenen, Vertretern verschiedener Gruppierungen. Anschließend debattieren sie über das Thema. Vergangenes Jahr über die Homo-Ehe, in Zukunft über den Klimawandel, eine Wahlreform, die Überalterung Irlands. Anschließend schicken sie Empfehlungen an das Parlament.
Solche Bürgerversammlungen gibt es nicht nur in Irland, sondern auch in Kanada, den Niederlanden und Island. Hier haben per Los ausgewählte Gruppen etwa über eine Wahlrechtsreform oder bestimmte Verfassungsartikel beraten.

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Antwort von
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Sehr geehrte Frau Locher,

die Idee der Bürgerversammlung ist auch für Deutschland nicht neu. So wird sie auf kommunaler Ebene bereits jetzt häufig genutzt, um Bürger in politische Entscheidungsprozesse einzubinden. Darüber hinaus gibt es bereits Bestrebungen, ähnliche Vorgehen auf Bundesebene zu etablieren.

Zunächst muss berücksichtigt werden, dass die Länder, in denen Bürgerversammlungen landesweit durchgeführt werden, deutlich weniger Einwohner haben als Deutschland. Die Niederlande beispielsweise hat 16,9 Mio Einwohner, Irland mit 4,6 Mio und Island mit nur gut 330 000 sogar noch weniger. In Deutschland wäre eine solche Bürgerversammlung auf Bundesebene ein enormer organisatorischer und logistischer Aufwand und somit schwieriger umzusetzen.

Würde man nun die Idee einer Bürgerversammlung auf Bundesebene weiterspinnen, käme man außerdem (unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl Deutschlands) zu dem Erfordernis einer komplizierten Reglementierung und aufwändigen Organisation. Schlussendlich wäre die Bürgerversammlung dann eine Art auf Zeit konstruiertes Ersatzparlament ohne jedoch die Befugnis zu haben, tatsächlich Entscheidungen zu treffen. Mir stellt sich da unter anderem die Frage, was passieren würde, wenn die Bürgerversammlung zu einem Ergebnis käme, das sich jedoch beispielsweise haushaltsrechtlich nicht finanzieren lässt. Das Parlament müsste sich dann gegen dieses Ergebnis stellen und im Rahmen seiner Möglichkeiten entscheiden, was dann erst Recht zu Unmut in der Bevölkerung führen würde.

Auf kommunaler Ebene ist die Bürgerversammlung allerdings bereits jetzt weit verbreitet und ein beliebtes Instrument, Entscheidungen mit größtmöglicher Akzeptanz der Bürger zu treffen. Das liegt unter anderem daran, dass die Länder – abweichend von der Regelung im Grundgesetz – grundsätzlich direkt demokratische Elemente in ihren Verfassungen verankern können. Dies wird auch fast flächendeckend in Anspruch gekommen, die unmittelbare Beteiligung der Bürger am politischen Meinungsbildungsprozess findet in den Ländern in Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden, Bürgeranträgen oder Bürgerforen seine Ausprägung.

Allerdings wurde jüngst auch auf Bundesebene ein ähnliches Modell wie das der irischen Bürgerversammlung ausprobiert, nämlich bei der Frage der Endlagersuche für hochradioaktiven Atommüll. Dabei wurde das sogenannte nationale Begleitgremium ins Leben gerufen, das an der Beteiligung der Öffentlichkeit bei dieser Frage mitwirkte (vgl.: http://www.nationales-begleitgremium.de/DE/Begleitgremium/begleitgremium_node.html;jsessionid=C8548D30E1E542DFD35E6EEC4B4B74B0.1_cid321 ). Die SPD-Bundestagsfraktion wird daran arbeiten, dieses Modell nun auch bei anderen Fragestellungen anzuwenden.

Schon lange versucht die SPD mehr Elemente direkter Demokratie auf Bundesebene zu etablieren, leider wurden derartige Versuche bisher immer von der CDU/CSU torpediert. So haben wir uns bereits in unserem Regierungsprogramm für die letzte Bundestagswahl unter dem Punkt „Demokratie leben“ zum Ziel gesetzt, Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen und so mehr Bürger unmittelbar an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen. Leider ließ sich dieses Vorhaben mit unserem Koalitionspartner aufgrund der erforderlichen 2/3 Mehrheit für Änderungen des Grundgesetzes in der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht umsetzen.

Grundsätzlich halte ich das Modell der Bürgerversammlung also für eine gute Idee, bin allerdings der Meinung, dass der Volkswille in Deutschland durch das personalisierte Verhältniswahlrecht auch so in einem guten Maße repräsentiert ist. Nichtsdestotrotz werden wir uns auch weiterhin dafür einsetzen, mehr Elemente direkter Demokratie zu etablieren und damit Bürger auch außerhalb der Wahlen in das demokratische Geschehen einzubinden.

Mit freundlichen Grüßen
Martin Gerster

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