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Martin Dulig
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Frage von Levin P. •

Frage an Martin Dulig von Levin P. bezüglich Recht

Sehr geehrter Herr Dulig,

einem Bericht von MDR Aktuell (https://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/sachsen-coronapolitik-ohne-parlament-100.html) entnehme ich, dass sich Ihre Fraktion gegen den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen sperrt, das Parlament verpflichtend an Infektionsschutzmaßnahmen der Staatsregierung zu beteiligen.

Warum das?

Ich finde, der Vorschlag bringt uns ein Mehr an Demokratie, an Bürgernähe und an Kontrolle der Regierung. Genau das ist ja die Aufgabe des Parlaments. Eine „Kontrolle im Nachhinein“ wie von Ihrer Kollegin Sabine Friedel vorgeschlagen finde ich witzlos. In den Hochzeiten der Corona-Pandemie wäre es wichtig gewesen, dass schon im Vorhinein eine zweite Instanz darauf geschaut hätte, um uns Bürgern unsere Rechte wie das auf Versammlungsfreiheit zu gewähren. Ich gehe davon aus, dass die Abgeordneten schon aufgrund ihrer Funktion deutlich näher am Bürger und dessen Bedürfnissen sind als beispielsweise eine Gesundheitsministerin. Und wenn es einmal wirklich schnell gehen muss, kann die Regierung ja trotzdem eine Verordnung erlassen, die zunächst so lange gilt, bis der Landtag beteiligt wurde.

Ein zweiter – vielleicht eher nebensächlicher – Aspekt, der für ein solches Gesetz spricht, ist der, dass Sachsen einmal positiv mit besonders demokratischen Maßnahmen in der bundesweiten Presse erwähnt würde. Schon über den Vorschlag gab es positive Berichte in der FAZ (https://www.faz.net/aktuell/politik/-16799048.html) und der Welt (https://www.welt.de/regionales/sachsen/article208851143). Das wäre doch einmal schön nach so vielen negativen Nachrichten über Sachsen! Dass auch der Landtag anstelle der Regierung Regelungen nach dem Infektionsschutzgesetz treffen kann, regelt übrigens Art. 80 Abs. 4 des Grundgesetzes.

Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht für oder gegen ein solches Beteiligungsgesetz?

Mit freundlichen Grüßen

L. P.

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Sehr geehrter Herr Pohle,

haben Sie vielen Dank für Ihre Frage. Ich verstehe, dass der Vorschlag, das Parlament beim Erlass von den Infektionsschutzmaßnahmen stärker zu beteiligen, erst einmal gut, demokratisch und positiv klingt. Doch beim genaueren Hinsehen gilt das meines Erachtens nicht mehr. Denn worum geht es? Wenn der Landtag anstelle der Staatsregierung die betreffenden Rechtsverordnungen erlassen soll, dann würde er selbst darüber entscheiden,

- ob zum Beispiel Eltern für den Kita- oder Schulbesuch eine Gesundheitsbestätigung ausfüllen müssen,
- ob zum Beispiel Einzelhandelsgeschäfte über 800 oder 850 oder 872 Quadratmeter geschlossen bleiben müssen,
- ob zum Beispiel eine Pflicht zur Mund-Nase-Abdeckung im ÖPNV besteht oder auch
- ob Familienfeiern in Gaststätten überhaupt, mit 20, 50 oder 200 Personen zulässig sind.

Ich persönlich halte es für keine gute Idee, solche Entscheidungen in den Landtag zu holen. Zum einen ist es für die Staatsregierung wesentlich einfacher als für den Landtag, sich mit dem betroffenen Organisationen und Institutionen - von der Krankenhausgesellschaft bis zum Einzelhandelsverband - zurückzukoppeln. Im Landtag müsste z.B. ein Vertreter einer solchen Institution ein Gespräch mit dem zuständigen Fachpolitiker der CDU-Fraktion, eines mit dem der AfD-Fraktion, eines mit dem der Linksfraktion, mit jenem der grünen Fraktion und mit jenem der SPD-Fraktion führen. Dann müssten die CDU-Fraktion, die AfD-Fraktion usw. jeweils einzeln zu einer Fraktionssitzung zusammenkommen, die Gespräche der jeweiligen Fachpolitiker in den Bereichen Wirtschaft, Pflege, Kinderbetreuung, Jugendhilfe, Kultur, Krankenhäuser, ... auswerten und sich eine gemeinsame Position erarbeiten; nachdem das geschehen ist, müssten sich CDU-Fraktion, grüne Fraktion und SPD-Fraktion zu dritt zusammensetzen und ihre Positionen abgleichen, da alle drei in einer Koalition regieren; im Anschluss müssten die zuständigen Fachausschüsse einzeln für ihr jeweiliges Themengebiet (Wirtschaft, Bildung, Kultur) zusammentreten und für ihren Bereich entsprechende Regelungen beraten, bevor dann ein federführender Ausschuss (wahrscheinlich Gesundheit und Soziales) die Voten der Fachausschüsse in einem Bericht zusammenführt und diesen schließlich dem Plenum des Sächsischen Landtages zur Beschlussfassung vorlegt. Dieser Prozess dürfte insgesamt gute acht bis zehn Wochen dauern, vorausgesetzt, keine der beteiligten Fraktionen kommt auf die Idee, zu der einen oder anderen Frage vielleicht noch eine öffentliche Sachverständigenanhörung durchführen zu wollen oder sich in ihrer Sitzung noch nicht auf eine einheitliche Position verständigen zu können und deshalb eine Vertagung auf die nächste Sitzung vier Wochen später zu beantragen.

Aus meiner Sicht gibt es gute Gründe dafür, dass unsere Rechtsordnung vorsieht, Gesetze, die inhaltlich weit reichen, die grundsätzliche Regelungen treffen und auf Dauer angelegt sind, vom Landtag beschließen zu lassen, und Verordnungen, die nur eine begrenzte Zeit gelten, die Einzelheiten regeln und eine gewisse Detailtiefe besitzen müssen, durch die Regierung verabschieden zu lassen und dem Landtag hierfür eine Kontrollfunktion zu geben. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich die parlamentarischen Abläufe verlässlich so beschleunigen lassen würden, dass innerhalb weniger Tage über solche Rechtsverordnungen entschieden werden kann.

Und dass in Krisen- bzw. Katastrophenzeiten ein Handeln binnen kurzer Zeit erforderlich ist, um schlimmeres zu verhindern, das haben meines Erachtens die Bilder aus New York, aus Bergamo oder auch aus Brasilien eindrücklich bewiesen. Die "zweite Instanz" mit Blick auf die Grundrechte, wie Sie das formulieren, gibt es: Das sind die Gerichte. Zu den Corona-Schutzverordnungen gab es eine Vielzahl von Gerichtsverfahren, gerade weil hier Grundrechte eingeschränkt worden sind. In der Mehrzahl der Fälle haben die Gerichte die Grundrechtsverträglichkeit bestätigt, in manchen Fällen aber auch nicht. Dann hat die Staatsregierung umgehend reagiert und die beklagte Passage aus der Corona-Schutzverordnung herausgenommen oder abgeschwächt.

Der aktuelle Stand der "Lockerungen" - meiner Ansicht nach ein irreführendes Wort, weil es außer dem Verbot von Großveranstaltungen und der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Abdeckung im ÖPNV und beim Einkauf praktisch keine Beschränkungen mehr gibt - der aktuelle Stand der "Lockerungen" also zeigt meines Erachtens deutlich, dass die Regierungen im Bund und in den Ländern ihre Verordnungskompetenz nicht missbraucht haben, um Grundrechte unverhältnismäßig oder über einen zu langen Zeitraum einzuschränken.

Freundliche Grüße
Martin Dulig

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