Frage an Martin Dörmann von Daniel S. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Dörnemann,
Sie haben soeben in der Abstimmung zur dauerhaften Ermächtigung des ESM mit "ja" gestimmt. Sicherlich ist es Ihnen aus der Regierungserklärung von Frau Merkel und auch aus den Medien unlängst bekannt, wie dieser - noch nicht einmal vollständig ausgearbeitete - völkerrechtlich bindende und unkündbare Vertrag bereits jetzt angewendet wird. Mit Ihrem "ja" haben Sie für einen europäischen Gouverneursstaatshaushalt gestimmt, der sich jeglicher Kontrolle durch demokratische Organe entzieht.
Siehe z.B. http://www.sueddeutsche.de/politik/abstimmung-ueber-den-esm-im-bundestag-und-bundesrat-wie-man-einen-vertrag-aendert-ohne-ihn-zu-aendern-1.1397639
Bitte nehmen Sie Stellung zu Ihrem Verhalten und legen Ihre Entscheidungsgründe detailliert dar. Ebenfalls interessiert mich, weshalb Sie davon ausgehen, mit Ihrer Stimme nicht gegen das Grundgesetz verstoßen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Daniel Schlicker
Sehr geehrter Herr Schlicker,
vielen Dank für Ihre Frage nach meiner Position zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, dem dauerhaften Euro-Rettungsschirm.
Mich und die anderen Bundestagsabgeordneten erreichen in diesen Wochen zahlreiche Schreiben von Bürgerinnen und Bürgern, die sich verständlicherweise Sorgen um die Staatsschuldenkrise und die zu ihrer Überwindung getroffenen Beschlüsse in der EU, in der Euro-Zone oder in Deutschland machen.
Gerade auch die jüngsten Beschlüsse des Deutschen Bundestages zu den Begleitgesetzen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie zum Fiskalpakt werfen grundlegende Fragen auf, etwa im Hinblick auf die von Deutschland übernommene Haftung, die parlamentarische Mitwirkung des Bundestages an haushaltsrelevanten Entscheidungen und die Vereinbarkeit der Regelungen mit unserem Grundgesetz.
Eins vorweg: Ihre äußerst kritische Einschätzung des ESM teile ich nicht.
Wie Sie sicherlich auch, bin ich sehr gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht in den nächsten Wochen über die anhängigen Klagen entscheiden wird. Die mündliche Verhandlung am 10. Juli zu den Eilanträgen hat schon deutlich gemacht, wie komplex die zu beantwortenden Fragestellungen sind. Wir bewegen uns politisch und juristisch auf Neuland. Die Herausforderungen sind in jedem Falle sehr groß.
Ich gehe davon aus, das Bundesverfassungsgericht wird sehr genau prüfen und verantwortlich entscheiden. Das Problem ist letztlich, dass es für unterschiedliche Sichtweisen jeweils durchaus gute Argumente gibt.
Mir ist meine Zustimmung zum ESM und zum Fiskalpakt (bzw. zu den diesbezüglichen Umsetzungsgesetzen) durchaus schwer gefallen. Mit dem ESM übernimmt Deutschland zusätzliche Haftungsrisiken in dreistelliger Milliardenhöhe. Zusammen mit den deutschen Anteilen an der ESFS und den ausgezahlten bilateralen Hilfen für Griechenland beläuft sich der deutsche Anteil an der finanziellen „Brandschutzmauer“ nunmehr auf ein Volumen von rund 310 Milliarden Euro.
Das ist eine gewaltige Summe. Als Abgeordneter stelle ich mir selbstverständlich die Frage, ob ein solches Risiko überhaupt vertretbar sein kann.
Mit dem ESM sollen zahlungsunfähige Mitgliedstaaten der Eurozone mit Krediten der Gemeinschaft der Euro-Staaten unterstützt werden – unter Einhaltung wirtschaftspolitischer Auflagen. Der Fiskalpakt soll Ausgabendisziplin sicherstellen und sieht hierfür eine von den nationalen Gesetzgebern umzusetzende Schuldenbegrenzung in den Vertragsstaaten vor, ähnlich der Schuldenbremse in unserem Grundgesetz. So soll verhindert werden, dass einzelne Staaten sich auf die Solidarität der anderen verlassen, ohne selbst solide zu haushalten.
Ergänzt werden ESM und Fiskalpakt nach den Beschlüssen des Europäischen Rates durch einen „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“. Darin wurden zentrale Forderungen des Gemeinsamen Papieres aufgenommen, die SPD und Bündnis 90/Die Grünen in intensiven Verhandlungen mit der Bundesregierung als Voraussetzung für unsere Zustimmung zu den Umsetzungsgesetzen durchgesetzt hatten.
Damit können jetzt erstmals wichtige Wachstumsimpulse und eine Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten zu Überwindung der Krise umgesetzt werden. Hervorzuheben sind dabei
- dass für die Finanztransaktionssteuer die Einleitung eines Verfahrens zur Verstärkten Zusammenarbeit mit einem Abschluss bis Dezember 2012 konkret benannt wurde,
- dass zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit jeder bzw. jedem Jugendlichen in kurzer Frist eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle angeboten werden soll, unter Bereitstellung von Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) für befristete Lohnzuschüsse,
- und dass über eine finanzielle Stärkung der Europäischen Investitionsbank (EIB), eine Initiative für Projektanleihen sowie eine Ausrichtung des nächsten EU-Haushaltes auf Wachstum und Beschäftigung zusätzliche Investitionen ermöglicht werden.
Zur Überwindung der Schuldenkrise sind neben Strukturreformen in einzelnen Ländern und einer Konsolidierung der Haushalte Wachstumsimpulse notwendig, um nicht in einen Teufelskreis zu geraten.
Einen perfekten Königsweg gibt es nicht. Und sicherlich sind auf der Strecke die demokratischen Beteiligungsrechte der Parlamente zu wahren und schwierige verfassungsrechtliche Fragestellungen zu klären – im Zweifel über das dafür zuständige Bundesverfassungsgericht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es uns Hinweise dafür gibt, wie wir die Beteiligungsrechte des Bundestages weiter stärken können.
Wenn Sie allerdings von einem „europäischen Gouverneursstaatshaushalt“ sprechen, der sich jeglicher Kontrolle durch demokratische Organe entziehe, so ist diese Wertung sachlich unzutreffend. Der Bundestag war und ist auch in Zukunft bei haushaltsrelevanten Entscheidungen zu beteiligen, soweit er vorher hierzu noch keine Beschlüsse gefasst hat.
Die Alternativen zum ESM erscheinen zudem aus heutiger Sicht als das größere Übel. Ein Auseinanderbrechen des Euro und eine Wiedereinführung der nationalen Währungen brächten unkalkulierbare Risiken mit sich, die noch weniger zu verantworten wären. Eine stark aufgewertete D-Mark und eine tiefe politische und wirtschaftliche Krise in Europa würden Deutschland als führende Exportnation besonders treffen und unweigerlich zu einer dramatisch anwachsenden Arbeitslosigkeit führen. Eine Renationalisierung würde zudem das politische Projekt Europa um Jahrzehnte zurück werfen.
Insofern haben wir als Abgeordnete letztlich nur die Wahl zwischen unterschiedlich großen Risiken. Ein kürzlicher Kommentar in der Süddeutschen Zeitung nannte sie „schlimm“ (ESM-Haftung) oder „katastrophal“ (Euro-Scheitern). Das ist nicht ganz verkehrt. Es gibt jedenfalls schönere Alternativen.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Dörmann, MdB