Wann wird eine Reduzierung der Überhangmandate in die Tat umgesetzt bzw. wann hört die ausufernde Vergrößerung des Bundestages (die wir finanzieren dürfen) auf?
Sehr geehrter Herr H.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Zuschrift.
Kurze Antwort: Zur übernächsten Bundestagswahl (regulär 2025).
Lange Antwort: Leider sind die Verhandlungen zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen in dieser Wahlperiode ergebnislos geblieben, da die Oppositionsparteien einzig und allein die Anzahl der Wahlkreise beschneiden wollten, weil sie diese sowieso nur in Ausnahmefällen gewinnen. Deshalb konnte in dieser Wahlperiode für die kommende Wahl nur eine sehr kleine Wahlrechtsreform von den Regierungsfraktionen erreicht werden. Der wichtigere Teil der Wahlrechtsreform, nämlich die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 280 erfolgt erst zur übernächsten Bundestagswahl (regulär 2025). Zur nächsten Bundestagswahl (2021) werden Überhangmandate teilweise mit Listenmandaten in anderen Ländern verrechnet und bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen belassen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war bereit, eine begrenzte Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise bereits für die nächste Bundestagswahl 2021 umzusetzen, um auch bei dieser Wahl die Größe des nächsten Deutschen Bundestages wirksam zu begrenzen. Dem hätten weder rechtliche noch praktische Gründe entgegengestanden, wie Staatsrechtslehrer und der Bundeswahlleiter bestätigt haben. Das war aber mit der SPD nicht zu machen. Der Kompromiss sah nun so aus, dass die Reduzierung der Wahlkreise erst zur übernächsten Bundestagswahl (2025) erfolgt. Die gesamte Wahlrechtsreform auf diese Zeit zu verschieben, war für uns aber keine tragbare Alternative.
Durch die Verringerung der Anzahl der Wahlkreise (2025) wird auch die Anzahl der Überhangmandate reduziert. Denn weniger Überhangmandate reduzieren den Ausgleichsbedarf zugunsten anderer Parteien. Meiner Fraktion und mir ist die Entscheidung für eine Wahlkreisreduzierung nicht leichtgefallen, da unsere überwiegend direkt gewählten Mitglieder fest vor Ort verankert sind und größere Wahlkreise den Austausch vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern erschweren.
Darüber hinaus wurde der sogenannte „erste Zuteilungsschritt“, der die Mindestsitzkontingente in den Ländern garantiert, modifiziert und damit eine teilweise Verrechnung von Überhangmandaten einer Partei mit Listenmandaten dieser Partei in anderen Ländern ermöglicht. Auch das reduziert den Ausgleichsbedarf. Da diese faktische Verrechnung nur teilweise erfolgen soll, wird ein „Leerlaufen“ ganzer Landeslisten ausgeschlossen und damit eine föderal ausgewogene Verteilung auch innerhalb der Parteien noch gewahrt. Eine vollständige Abschaffung garantierter Mindestsitzkontingente kam auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht. Denn der „erste Zuteilungsschritt“ wurde als Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingeführt, um das Entstehen von negativem Stimmgewicht – also, dass eine Partei trotz mehr Stimmen weniger Sitze oder trotz weniger Stimmen mehr Sitze erhält – zu verhindern.
Ausgleichslose Überhangmandate sind ein weiteres wirksames Mittel, um den Ausgleichsbedarf zu reduzieren. Das ist auch verfassungsgemäß: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. Juli 2012 ausdrücklich festgestellt, dass die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes – also eine Beeinflussung der proportionalen Sitzverteilung auf der Grundlage des Ergebnisses der Zweitstimmen – durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht sieht selbst bei ausgleichslosen Überhangmandaten im Umfang einer halben Fraktionsstärke keine Verzerrung des Zweitstimmenproporzes, sondern lediglich eine durch die Bedeutung der Direktmandate zu rechtfertigende Beeinträchtigung.
Diese drei Stellschrauben der Wahlrechtsreform ergänzen sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Mit diesen Änderungen wären mit dem Wahlergebnis von 2017 sechzig Abgeordnete weniger, also statt 709 zumindest nur 649 Abgeordnete im Deutschen Bundestag vertreten. Wir haben das Wahlrecht also ausgewogen und wirksam reformiert - ohne das bewährte System der personalisierten Verhältniswahl insgesamt zur Disposition zu stellen. Wir hatten uns nach beharrlichen Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner - und auch intensiven internen Diskussionen - auf dieses ausgewogene, gestufte Kompromissmodell geeinigt.
Nichtsdestotrotz ist der Deutsche Bundestag selbst in der jetzigen Größe voll arbeitsfähig, die Wahlkreisarbeit stößt dagegen bereits bei 299 Bundestagswahlkreisen an seine Grenzen, da die Flächenwahlkreise schon jetzt teilweise sehr groß sind. Inhaltlich bin ich im Auswärtigen Ausschuss schon jetzt Berichterstatter meiner Fraktion für 40 Staaten der Erde (Indien, Mali, Indonesien, Vietnam, Griechenland, Kongo, Nigeria, Burkina Faso, …), zudem für Themen zum internationalen Terrorismus, die Afrikanische Union sowie ASEAN. Meine Berichterstatterthemen sind also schon heute zahlreich und vielfältig. Kleinere Fraktionen müssen gleichzeitig ein Vielfaches an Themen pro Abgeordneten mehr abdecken. Es ist also nicht so, dass die Größe zur Langeweile bei Abgeordneten führt, sondern im Gegenteil zu mehr Detail- und Expertenwissen in der politischen Arbeit.
Und ich bin davon überzeugt und werde davon in meiner Wahlkreisarbeit täglich bestärkt, dass direkt gewählte Abgeordnete in unserem Wahlrecht eine höhere Legitimation besitzen, als „Parteikandidaten“ auf den Listen. Auch so ist es zu begründen, dass beim Gewinn von drei Direktmandaten einer Partei, anteilig die Listenkandidaten in den Bundestag einziehen, auch wenn die Partei eigentlich an der 5-Prozent-Hürde gescheitert ist. Wenn ein Kandidat in seinem Wahlkreis scheitert, aber über die Liste einzieht, kann die direkte Legitimation gar nicht so hoch sein, wie bei direkt von den eigenen Bürgern gewählten Abgeordneten. Daher finde ich persönlich nach wie vor jede Einschränkung der direkten Legitimation über die Wahlkreise für eine stärkere Förderung der nicht direkt gewählten Listenkandidaten als ausschließliche Parteikandidaten, wie es die kleinen Bundestagsparteien immer noch ohne jegliche Kompromissbereitschaft fordern, nicht erstrebenswert.
Außerdem bewegt sich die derzeitige Größe des Bundestages im Rahmen anderer hochgeschätzter Parlamente. Im Bundestagswahlkreis Hochtaunus leben 250.000 Bürgerinnen und Bürger, für die ich der direkt gewählte Abgeordnete bin. Wenn man nun auch die Listen-Abgeordneten hinzuzieht, kommt in Deutschland auf 120.000 Einwohner durchschnittlich ein Bundestagsabgeordneter. In Österreich kommt bereits auf 50.000 Einwohner ein Abgeordneter des Nationalrats, im schweizerischen Nationalrat sogar auf 40.000 Einwohner, aber auch im großen Flächenstaat des Vereinigten Königreichs kommt ein Abgeordneter auf 100.000 Einwohner, in der französischen Nationalversammlung auf 116.000 Einwohner. Allesamt haben somit verhältnismäßig deutlich mehr Abgeordnete pro Einwohner als Deutschland.
Wichtiger als die Größe des Parlaments sind für mich ohnehin aber die Ergebnisse, die dort herauskommen. Im Vergleich zum britischen Unterhaus oder der französischen Nationalversammlung muss sich der Deutsche Bundestag ganz sicher weder quantitativ noch qualitativ verstecken. Im Gegenteil hat er gerade in der schweren COVID-19-Pandemie seine Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ein qualitativ hochwertig arbeitendes Parlament als Stütze der Demokratie kann uns auch eine Milliarde Euro Wert sein, denn eine gute Demokratie sollte genauso wenig wie der Rechts- und Sozialstaat eine ausschließliche Frage des Geldes sein.
Aber natürlich wollte auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein noch weiteres Anwachsen des Bundestages verhindern, weshalb nach langen Runden mit kompromisslosen Oppositionsparteien, die Regierungsparteien eben ein eigene Wahlrechtsreform vorlegten und nun wenigstens für die übernächste Bundestagswahl (reguläre 2025) eine erhebliche Reduzierung der Bundestagssitze erreicht werden konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Markus Koob