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Marino Freistedt
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Frage von Gudrun S. •

Frage an Marino Freistedt von Gudrun S. bezüglich Bildung und Erziehung

Sehr geehrter Herr Freistedt,

seit Jahrzehnten hält die CDU am dreigliedrigen Schulsystem (demnächst: zweigleidrig) fest, das aus dem 19. Jh. stammt und das damalige Gesellschaftssystem und auch noch das der ersten Hälfte des 20. Jh. abbildete. Zudem entsprach es auch den ökonomischen Notwendigkeiten der damaligen industriellen Welt in Deutschland: Man brauchte halt viele Menschen für relativ einfache Tätigkeiten und da war - wirtschaftlich betrachtet - Hauptschulbildung absolut ausreichend.
Inzwischen - um nur bei dem letzten Punkt zu bleiben - haben sich die ökonomischen Verhältnisse verändert und wir müssten wirklich jede!!!! Begabung fördern. Stattdessen sortieren wir Kinder mit 10 oder 11 Jahren aus, in einem Alter, in dem sich für viele Kinder kaum sichere Prognosen über Begabung und Schulerfolg stellen lassen. Kommen Sie mir bitte nicht mit Durchlässigkeit des Systems und den späteren Möglichkeiten, versäumte Schulabschlüsse nachzuholen. Das ist - für die allermeisten Kinder - keine realistische Perspektive.
Warum also wehrt sich die CDU so dagegen, Kinder zumindest bis zum 8. Schuljahr gemeinsam zu unterrichten? Warum müssen wir auf diesem deutschen Sonderweg weiter in die Irre gehen? Ich sehe Ihrer Antwort mit Interesse entgegen.

Mit freundlichen Grüßen
G.Stiegler

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Antwort von
CDU

Sehr geehrte Frau Stiegler,

ich bedanke mich für Ihre Frage, die sich auf die Schulstruktur in Deutschland bezieht. In Ergänzung
zu Ihrer Feststellung, dass in früheren Zeiten - aus wirtschaftlichen Gründen - die "Hauptschulbildung
absolut ausreichend" war, darf ich hinzufügen, dass noch bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts Hauptschulabgängern mitgeteilt wurde, dass sie jetzt für ihr Leben "ausgelernt" hätten. Die Anforderungen un-
serer Industriegesellschaft haben aber in den vergangenen drei Jahrzehnten das Bewusstsein für gute Schul-
bildung und lebenslanges Lernen geschärft und verändert.
Erfreulich viele Jugendliche und Erwachsene haben neben ihrer Ausbildung oder während ihres Berufseinstiegs an höher qualifizierenden schulischen Ausbildungsgängen teilgenommen und z.B. die Abendschulen oder privat ausgerichtete Akademien sowie Schulen des Handwerks oder Fortbildungsmaßnahmen der Kammern belegt. Insofern möchte ich auch diese Bildungswege nicht missen oder abwerten.
Seit einigen Jahren wird nun von politisch interessierter Seite sehr pauschalierend darauf verwiesen, dass
integrativ arbeitende allgemeinbildende Schulsysteme Kindern und Jugendlichen eine bessere Bildungsqualität mitgeben. Dazu wird als Bedingung der gemeinsame Unterricht aller Kinder von der 1. bis zur 8. oder 9. Klasse gesehen und auf Schulen insbesondere in Schweden und Finnland, Großbritannien und den USA verwiesen.

Unbestritten ist die Tatsache, dass erfolgreiche Bildungsprozesse gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer oder Lernbegleiter voraussetzen. Dabei ist neben der guten Fachkompetenz die didaktisch-methodische Kompetenz sowie in verstärktem Maße die diagnostische Kompetenz einer Lehrkraft gefordert. Die bisherige Ausbildung an Hochschulen und Lehrerseminaren hat sich, auch unter Berücksichtigung des Zwei-Fächer-Studiums, erst in den letzten Jahren mit Nachdruck verändert und sowohl fachwissenschaftliche Studien wie moderne pädagogisch-didaktische Erkenntnisse in die Ausbildung mit einbezogen. Aufgrund der Einstellungspraxis der Kultusministerien und der Schulbehörden sind viele Lehrkräfte noch sehr stark schulformbezogen ausgebildet worden, so dass eine zwangsweise verordnete "gemeinsame
Schulzeit von Klasse 1 bis Klasse 9" nicht den bisherigen praktischen Lehrerfahrungen vieler Pädagogen entsprechen würde. Viele Beobachter schließen deshalb sogar ein Scheitern des Lernprozesses bei Verfolgung der pädagogischen Vorgaben zur Etablierung von Gemeinschafts- oder Einheitsschulen nicht aus.

Ein weiterer Grund für meine Skepsis hinsichtlich des nachhaltigen Lernerfolges von Gemeinschaftsschulen ist aber auch der genauere Blick in die Schulsysteme des Auslands, in denen integrativer Schulunterricht in einer Gemeinschaftsschulform stattfindet und erst ab Klasse 9 oder 10 in differenzierenden Schulformen unterrichtet wird. In vielen Bundesstaaten der USA gibt es vorzugsweise nur "(junior) high schools" und ganz wenige "middle schools". Die Leistungsergebnisse dieser integrativ arbeitenden high schools sind in vielen Bundesstaaten und auch nationalweit stark kritisiert worden. Viele wohlhabende Eltern versuchen daher, ihre Kinder in Privatschulen mit teilweisen hohem selektivem Charakter unterzubringen. Ich möchte diese Selektion nach Einkommen nicht in Deutschland durch wohlgemeinte, aber falsche Weichenstellung fördern.

Blicken wir auf die Ergebnisse skandinavischer Staaten wie Finnland und Schweden, so stellen wir fest, dass sich das finnische Schulsystem mit seinen soziokulturellen Voraussetzungen deutlich von dem großflächigem Industriestandort Deutschland unterscheidet. Die Bevölkerungs- und Arbeitnehmerstruktur sowie die familiären Bindungen sind unterschiedlich und bedingen unterschiedliche Lernvoraussetzungen. Die finnischen Schulen sind zunächst aus demographischen und aus ökonomischen Gründen zu integrativ ausgerichteten Schulsystemen geworden. Seit Beginn der Umwandlung wird dort mit Leistungskontrollen und Evaluationsaufträgen gearbeitet, die die binnendifferenzierenden Unterrichtsformen direkt und indirekt prüfen. Die einzelnen Schulen differenzieren sehr stark, so dass vielfach finnische Kinder innerhalb der Schule
über mehrere Jahre hinweg in verschiedene Kurse gehen. Hinzu kommen in den Einheitssystemschulen Sonderklassen, in denen Schülerinnen und Schüler mit erhöhtem Lernbedarf über längere Zeiten gesondert unterrichtet werden. Zudem darf darauf verwiesen werden, dass häufig finnische Schulen eine wesentlich geringere Schülerzahl haben und typische Großstadtprobleme wie in Deutschland kaum zu Tage treten. Die Binnendifferenzierungen im finnischen Schulsystem sind kaum übertragbar auf deutsche Schulen mit hoher Schülerzahl. Das deutsche Schulsystem kann allerdings von finnischen Schulen lernen, wie individualisierend und fördernd unterrichtet werden kann. Auch das Beispiel Schweden zeigt in den vergangenen Jahren immer deutlicher zu Tage tretende Schwächen auf. Langzeituntersuchungen haben nachgewiesen, dass Schüler, die schwedische Schulen durchaus erfolgreich durchlaufen haben, während der nachfolgenden dreijährigen Oberstufenzeit häufig Misserfolge hinnehmen müssen und in einem hohen Maße ihren studienberechtigenden Gymnasialabschluss nicht erreichen. Es gibt nach der landesweit organisierten grundskola (kostenlose Ganztagsschule) dieses dreijährige Gymnasium, in der allerdings die Durchfallquote seit zehn Jahren beständig steigt und die schwedische Schulbehörde dies als negativ betrachtet. Diese Angaben sind nachzulesen in dem lesenswerten Aufsatz von P. Krumrey: "Eine Schule für alle - verschläft das schwedische Erfolgsmodell seinen Innovationsvorsprung", veröffentlicht von der SPD - nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (Ausgabe 7-2007). Das schwedische Schulsystem gehört laut PISA-Studien zu den Verliererländern. Großbritannien zeigt in einer noch eklatanteren Weise, dass vermögende Eltern dem staatlichen Schulsystem den Rücken kehren und ihre Kindern - teilweise gegen hohe Elternbeiträge - leistungsstarke Privatschulen zuweisen. Gerade dieses Verfahren bezeichne ich als "hoch selektiv" und mit unserem Verständnis von Bildungsgerechtigkeit nicht vereinbar.
In der heutigen Zeit von stärker differenzierenden Ansprüchen, Lebenshaltungen und -erfahrungen, unterschiedlichen Familienbindungen und -sozialisationen sowie unterschiedlichen Begabungen ist eine generelle Einführung von einheitlich organisierten schulischen Bildungsgängen und Schulformen nicht zukunftssicher. Einzelne Schulen, die aufgrund ihres Schulprofils erfolgreiche Unterrichtsmethoden und Unterrichtsleistungen für gemeinsamen Unterricht über mehrere Jahre nachweisen, sollten diese Schulform exemplarisch weiter entwickeln, um auch hiesigen Schulen die Möglichkeit zu geben, neue Unterrichtsformen in ihr Programm aufzunehmen.

Ich hoffe, ich habe Ihnen mit dieser Antwort eine Darstellung der durchaus von Nachdenklichkeit geprägten CDU-Sichtweise geben können. Für uns ist die Schulform keine ideologische Barriere, das haben wir mit dem konstruktiven Vorschlag gezeigt, mit dem wir in der Enquete-Kommission der Hamburger Bürgerschaft dem Vorschlag zur Gründung von Stadtteilschulen und der Beibehaltung von Gymnasien zugestimmt haben. Wir wollen keine Spaltung der Wissensgesellschaft in sozial starke Gruppen und sozial schwache Gruppen hinnehmen - wir müssen den Bildungsgang für alle Schülerinnen und Schüler leistungsgerecht gestalten und die Chancen für den Einstieg in Beruf und Studium erweitern.

Gerne stehe ich Ihnen zu weiteren Auskünften zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Marino Freistedt