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Frage von Roland R. •

Frage an Margrit Wetzel von Roland R. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Über Jahre wird mir nun schon erzählt, die Türkei müsse Vollmitglied der EU werden.
Niemals wird dazu eine plausible Begründung geliefert.
Vorverhandlungen und Zusagen sind keine solchen.
Also: Cui bono?

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Risch,

herzlichen Dank für Ihre Frage nach plausiblen Gründen für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union.
In der Tat gibt es eine Reihe von Gründen für eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. Dazu zählen geostrategische Interessen, wirtschaftliche / finanzielle Aspekte, Kontinuität und Glaubwürdigkeit der EU als verlässlicher Partner, sowie die damit zusammenhängende Friedenswirkung der gesamten europäischen Integrationspolitik.

Nicht nur die Türkei, sondern auch die EU hat ein grundsätzliches Interesse an einem Beitritt, da jeder einzelne EU-Mitgliedsstaat von einem Beitritt profitieren wird. Der Türkei kommt mit ihrer geografischen Lage eine wichtige Funktion als stabiles, europaorientiertes Land in einer unruhigen Großregion zu. In einer Krisenzone mit blutigen Kämpfen im Irak und Nahen Osten, den Herausforderungen durch die Atompolitik des Irans, den regionalen Aktivitäten Syriens und den Einflusschancen auf die türkischsprachigen Länder Zentralasiens gilt die Türkei als ein stabilisierender Anker der Region. Der Beginn von Beitrittsverhandlungen kann auch eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den Terrorismus der Netzwerke Osama Bin Ladens spielen: Mit der Entscheidung einer großen islamisch geprägten Gesellschaft, einen europäischen Weg zu gehen und ihrer Einbindung in die EU und damit in die westliche Welt, wird der Strategie des radikalen Islamismus einer dauerhaften Konfrontation „Westen vs. Islam“ deutlich etwas entgegengestellt.

Für die EU ist die Türkei auch als Wirtschaftspartner und Absatzmarkt von großem Interesse, die EU profitiert schon heute durch die intensiven Wirtschaftbeziehungen seit der gemeinsamen Zollunion. Die Türkei wickelt 50% ihres Außenhandels mit der EU ab, davon entfällt ein Drittel auf Deutschland. Deutschland ist führend bei den Direktinvestitionen in der Türkei und in Deutschland exstieren mehr als 40.000 türkische Unternehmen, die bei uns zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Das Wirtschaftswachstum der Türkei verlief in den vergangen Jahren positiv und stieg in den Jahren zwischen 1992 und 2002 um durchschnittlich 3%.

Beitrittsländer haben große Herausforderungen zu bestehen, sie müssen die Beitrittsvoraussetzungen, die Kopenhagener Kriterien, erfüllen. Dabei geht es unter anderem um institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten, Gleichstellung von Mann und Frau, eine funktionsfähige Marktwirtschaft. Dafür müssen Beitrittskandidaten ihr politisches und wirtschaftliches System an EU-Standards angleichen.

Am 03. Oktober 2005 werden auf Beschluss des Europäischen Rates die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen wird fälschlicherweise oft mit einer Zusage des Beitritts gleichgesetzt. Dies ist schlicht falsch, denn es gibt keinen Automatismus des Beitritts, die Verhandlungen sind ein Prozess mit offenem Ausgang. Der Fortschritt der Beitrittsverhandlungen wird in den kommenden Jahren ganz entscheidend vom Reformtempo in der Türkei abhängen. Die Türkei selbst rechnet mit einer Verhandlungsdauer von mindestens 10 Jahren und der türkische Ministerpräsident Erdogan spricht selbst vom Jahr 2019 als Beitrittsziel.
Zu dieser Zeit wird die Türkei nicht mehr die Türkei von heute sein und auch die EU wird sich verändert und für die Erweiterung fit gemacht haben, damit sie auch in Zukunft handlungsfähig bleiben wird.

Übrigens: Alle deutschen Bundesregierungen seit Adenauer haben erklärt, dass sie das Ziel einer Mitgliedschaft der Türkei in der EU unterstützen. Es geht also zusätzlich um die Glaubwürdigkeit deutscher und europäischer Politik und bereits geschlossener Abkommen.

Mit freundlichem Gruß
Dr. Margrit Wetzel MdB