Werden Sie alles Ihnen mögliche dafür tun, dass Arzneimittel-Wirkstoffe zukünftig wieder gänzlich in der EU hergestellt werden?
Sehr geehrter Herr Goller,
Wir wollen die Produktion relevanter Arzneimittelwirkstoffe in der EU anreizen. Das wären etwa solche, bei denen Lieferschwierigkeiten zu besonders großen Versorgungsproblemen führen würden oder bei denen die Abhängigkeit von einer außereuropäischen Produktionsstätte besonders groß ist.
Wir wollen die Versorgung in der EU sicherstellen und die strategische Souveränität stärken. Dazu wollen wir eine Vernetzung von Daten und Herangehensweisen mittels einer noch zu schaffenden EU-Gesundheits-Task-Force. Diese soll medizinische Güter auf Grundlage des Kriteriums der Gesundheitssouveränität in Güter klassifizieren.
Wir wollen einen Resilienzaufbau für einen strategisch gestärkten Binnenmarkt durch mehr gemeinsame Vorschriften und Normen sowie EU-weite Beschaffung pandemischer Güter, wie Schutzausrüstung und relevanter Arzneimittel, da dies einer unserer größten Aktivposten und ein Schlüsselelement beim Resilienzaufbau ist. Dies kann die Entwicklung optimaler Lösungen für zukünftige Krisen beschleunigen.
Wir wollen eine Fokussierung auf krisenfeste globale Produktions- und Lieferketten für notwendige medizinische Ausrüstung und relevante Arzneimittelwirkstoffe in der Europäischen Union. Unverzichtbar sind dafür offene europäische Versorgungswege für den Handelsverkehr auf dem See-, Land- und Luftweg. Die Grenzregelungen müssen laufend an das epidemiologische Geschehen angepasst werden. Dies gilt insbesondere für Arzneimittel wie Antibiotika und Impfstoffe und die ununterbrochene Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe für z. B. die Biotech- Industrie. Dabei muss unterschieden werden zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten…
- deren Produktion und Lieferketten auch vollständig in der EU möglich sein müssen,
- deren Produktion und Lieferketten in der europäischen Peripherie wie auf dem Balkan oder in Nordafrika oder in weiter entfernten Ländern geschehen können,
- deren (kritische) Komponenten eine ausreichend diversifizierte Anbieterbasis, mit verschiedenen Zuliefererstaaten und -unternehmen, haben müssen, auf alternative Rohstoffabkommen zurückgreifen, die die Bedürfnisse der Lieferländer ins Zentrum stellen und dadurch eine hohe Resilienz der Lieferkette versprechen, wobei möglicherweise z.B. aufgrund von Sicherheitsbedenken bestimmte Länder ausgeschlossen oder die Lieferung von Ländern auf der Grundlage bestimmter Garantien abhängig gemacht wird,
- deren Produktion und Lieferketten keinen Voraussetzungen unterliegen.
Eine Sicherstellung der Versorgung und die Diversifikation der Zulieferer kann durch vertraglich garantierte Lieferkapazitäten und Vorgaben zu Lagerhaltung für in der EU ansässige Unternehmen ebenso wie für Importeure erreicht werden, durch Quoten zur Diversifizierung der Lieferanten, oder mit einem finanziellen Anreiz-System, das Arzneimittel-Herstellern die Möglichkeit gibt, ihre Wirkstoffproduktion von Drittländern nach Europa zu verlagern und somit zur Diversifizierung der Produktionsstätten beizutragen. Hierzu gehört auch, die Identifikation neuer Handelspartner und neuer strategischer Kooperationen für jene Produkte, bei denen diese Diversifikation wünschenswert ist. Dies sollte gleichzeitig genutzt werden, um neue Arbeitsplätze in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit zu schaffen und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu beenden. Ein Beispiel kann eine Textilkooperation mit Tunesien sein oder die Unterstützung aktueller Fast Fashion Industriestandorte, beispielsweise in Asien, bei der Umstellung auf die nachhaltige Produktion von medizinischen Schutzgütern wie Masken. Wo immer möglich, sollten die Entscheidungen mit und von Akteuren des Privatsektors getroffen werden. Eine enge Kooperation mit den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft vor Ort ist entscheidend, um grundsätzlich und insbesondere in Pandemiezeiten gute und sichere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.
Wir wollen eine Flexibilisierung der Produktion durch neue Strukturen und Anreize für Unternehmen, um die bestehenden Produktionskapazitäten strukturell so anzulegen, dass auf Grundlage von europäisch koordinierten Notfallplänen eine schnelle Umstellung der Produktion im Krisenfall möglich ist und Kosten der Produktionsumstellung aufgeteilt werden oder förderfähig sind;
Wir fordern den Aufbau ergänzender strategische Lagerbestände für drei Monate für kommende Krisensituationen über die Auswertung und Weiterentwicklung des Solidarfonds rescEU, u.a. an kritischen Arzneimitteln, Schutzausrüstung, notfallmedizinischen Geräten sowie Impfstoffen in der gesamten EU; auch ist eine Beteiligung aller Staaten des westlichen Balkans am EU-Zivilschutzmechanismus und an der zentralen Beschaffung
Eine europäische Arzneimittelstrategie
Für eine bessere Versorgung in der EU mit Arzneimitteln braucht es – jetzt und zukünftig – eine starke Arzneimittelstrategie der EU und eine Aufwertung der Kompetenzen der EU in der Gesundheitspolitik. Neben der Liefersicherheit soll eine gesteigerte Wirkstoffproduktion in der EU auch zu mehr Qualität führen. Qualitätskontrollen in Produktionsstätten können innerhalb der EU unter Koordination der Europäischen Arzneimittelagentur vermehrt durchgeführt werden. Dabei gilt es, Transparenz über die gesamte Lieferkette hinweg herzustellen – vom Rohstoff bis hin zum fertigen Produkt im Endverkauf. Außerdem sollen in Verhandlungen um eine gemeinsame Arzneimittelstrategie mit den EU-Mitgliedstaaten neben der Zurückholung und Sicherstellung von Produktions- und Lieferketten auch grüne Aspekte, die über die geltenden Good Manufacturing Practice-Systeme hinausgehen, wie Nachhaltigkeit, Umweltschutz und die Einhaltung sozialer Standards, miteinbezogen werden.
Wir brauchen eine verstärkte Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten für die Entwicklung und Beschaffung von Medikamenten und Impfstoffen gegen COVID- 19. Die Entwicklung eines Impfstoffes muss in einem europäisch koordinierten Dialog mit der pharmazeutischen Industrie in Bezug auf kritische Komponenten und Verfahren sichergestellt werden. Die Kooperation unter Koordinierung der EU-Kommission sollte Vorabsprachen und –zahlungen von Landesregierungen mit Arzneimittelherstellern nicht ohne Bedingungen (wie beispielsweise einen verbindlichen Technologie-Transfer oder die Vergabe von Lizenzen) zulassen. Potenzielle Impfstoffe gegen COVID-19 werden ein knappes Gut sein, welches durch Vorabsprachen zusätzlich verknappt wird. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihren Ratspräsidentschaftsvorsitz dafür nutzt, um Partikularinteressen einzelner Staaten durch Vorabkäufe1 zu kritisieren und sich dafür einzusetzen, dass zukünftige Arzneimittel- und Impfstoffdosen gegen COVID-19 als globales Gut angesehen werden, dessen Preissetzung transparent sein wird.
Mehr dazu finden Sie hier: https://kai-gehring.de/wp-content/uploads/2020/10/AutorInnenpapier-Gesundheitsunion.pdf
Beste Grüße
Marcel Emmerich