Frage an Lydia Westrich von Wolfgang K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Westrich,
ich habe mit Entsetzen über ihre Zustimmung zum Lissabon-Vertrag gelesen. Wie um alles in der Welt kann man solch einem Vertrag zustimmen, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage stellt? Sind Sie sich im Klaren darüber, was Deutschland und dem Deutschen Volk dadurch diktiert wird?
Deutschland gibt den letzten Rest Souveränität auf und beugt sich den Finanzoligarchen in Brüssel, der Markt wird vollkommen dereguliert und die Kluft zwischen dem Volk und der Finanzelite wird größer.
Ich bitte um eine Stellungnahme Ihrerseits!
Hochachtunsvoll
Sehr geehrter Herr Krautwurst,
ich danke Ihnen für Ihre Anfrage über Abgeordnetenwatch vom 25. April 2008, in der Sie mich um eine Stellungnahme bezüglich des Vertrages von Lissabon bitten. Gerne komme ich Ihrem Anliegen nach:
Wie Sie sicher wissen sieht das Grundgesetz für die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge – dazu zählt auch der Vertrag von Lissabon – ein parlamentarisches Verfahren vor. Für die Annahme des Vertrages in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig. Dieses parlamentarische Verfahren ist Teil unserer bewährten Verfassungswirklichkeit und Staatspraxis.
Die Kompetenz für den Vertrag von Lissabon ergibt sich dabei aus Art. 23 Grundgesetz, welcher die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu einer europäischen Staatengemeinschaft gestattet und die Übertragung von Hoheitsrechten auf diese Gemeinschaft zulässt. Notwendigerweise damit verbunden ist ein Einflussverlust des Deutschen Bundestages; denn wie jeder Mitgliedstaat ist Deutschland an die Entscheidungen der zwischenstaatlichen Gemeinschaft gebunden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1993 in seinem so genannten Maastricht-Urteil für verfassungsgemäß erachtet.
Dennoch, so stellten die Verfassungsrichter weiter fest, müsse innerhalb einer Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme gesichert sein. Diese demokratische Legitimation werde vor allem von den jeweiligen Staatsvölkern über ihre nationalen Parlamente vermittelt. Dies gilt, sehr geehrter Herr Krautwurst, auch heute noch! Der Vertrag von Lissabon bringt nämlich nicht nur mehr Handlungsfähigkeit, mehr Demokratie und mehr Transparenz für die Europäische Union, sondern er verbessert auch die Stellung der nationalen Parlamente in Subsidiaritätsfragen:
Mit der in dem Vertragswerk verankerten Subsidiaritätsrüge wird sichergestellt, dass das Subsidiaritätsprinzip besser gerichtlich geprüft werden kann. Dieses Prinzip ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 EGV und besagt dabei vereinfacht, dass die einzelnen Mitgliedstaaten die Zuständigkeiten zur Gesetzgebung behalten, die sie selbst am wirksamsten wahrnehmen können, und der Gemeinschaft die Befugnisse zukommen, die die Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene nicht in befriedigender Weise ausüben können. Die Rüge erlaubt nun eine kritische Überprüfung bei der Einhaltung des Grundsatzes. Ist ein nationales Parlament danach immer noch nicht von dessen Einhaltung überzeugt, kann es gegen diese Missachtung nach Erlass des europäischen Rechtsaktes vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.
Zudem wird auch die Rolle des Europäischen Parlamentes gestärkt, dessen Stellung im europäischen Rechtsetzungsprozess laut Maastricht-Urteil als zusätzlich stützende Legitimation dient. Besondere Beachtung verdient dabei meines Erachtens die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens des Europäischen Parlamentes auf die meisten internen Politikbereiche der Europäischen Union. Damit geht einher, dass die Zahl der Entscheidungen, die im Rat ohne Beteiligung unmittelbar legitimierter Volksvertreter getroffen wird, deutlich zurückgeht.
Unabhängig davon haben der Deutsche Bundestag und die SPD-Bundestagsfraktion im Jahr 2006 jeweils Verbindungsbüros in Brüssel geschaffen. Diese Büros sollen dazu beitragen, das Parlament sowie die betreffenden Ausschüsse und Abgeordneten möglichst frühzeitig über Diskussionen und geplante Rechtsakte der Europäischen Union zu informieren, so dass gegebenenfalls bereits in diesem Stadium Einfluss genommen werden kann.
Aus den obigen Gründen kann ich mich somit Ihrer Befürchtung eines vollkommenen Souveränitätsverlustes der Bundesrepublik Deutschland durch den Vertrag von Lissabon nicht anschließen.
Auch die von Ihnen angesprochene „Kluft zwischen dem Volk und der Finanzelite“ kann ich nur zu einem gewissen Teil nachvollziehen. Ungeachtet dessen, was überhaupt unter dem Begriff der Finanzelite zu verstehen ist, eröffnet der Vertrag von Lissabon mehr Chancen für den sozialen Fortschritt. Denn der Vertrag betont als zentrales Ziel der Europäischen Union die soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. Damit schreibt der Vertrag von Lissabon erstmals fest, dass das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs nicht mehr Ziel, sondern lediglich ein Instrument der Europäischen Union ist.
Dabei bin ich mir jedoch absolut darüber im Klaren, dass sich dieser Schritt hin zu einem sozialeren Europa erst noch im Wirken der europäischen Organe niederschlagen muss. Denn bislang lässt sich gerade an den Entscheidungen der Europäischen Kommission wie auch den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs erkennen, dass deren Handlungen oftmals ausschließlich dem Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs untergeordnet sind.
Dieser Prozess, den man ohne weiteres auch als Lernprozess für die Organe der Europäischen Union bezeichnen kann, ist meines Erachtens erfolgversprechender, wenn er mit Deutschland als Unterzeichnerstaat des Vertrages von Lissabon – und nicht ohne Deutschland – begangen wird. Mehr noch: In meinen Augen würde eine Weigerung Deutschlands, den Vertrag von Lissabon zu ratifizieren, ein verheerendes Signal an alle anderen Mitgliedsstaaten senden und wäre dem Ziel eines sozialen Europas abträglich. Dies gilt umso mehr, da der europäische Wirtschaftsraum bereits derart eng miteinander verwoben ist, dass Deutschland mit seinen zahlreichen sozialen Errungenschaften gegenüber anderen europäischen Ländern mit niedrigeren sozialen Standards unweigerlich unter Druck geraten würde, wenn der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten würde. Dieser „soziale Besitzstand“ Deutschlands kann einfacher in der Mitte der Europäischen Union gewahrt und an andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union weitergegeben werden.
Überdies bietet der Vertrag von Lissabon erstmals eine Grundlage für eine europarechtliche Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge, dies war ein wichtiges Anliegen der SPD, denn die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union dürfen nicht zu einer Privatisierung öffentlicher Dienste zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher führen. Durch diese Regelungen wird die Daseinsvorsorge von dem uneingeschränkten Wettbewerbsprinzip ausgenommen.
Aber auch im Bereich der Grundrechte bietet der Vertrag von Lissabon eine Verbesserung zur derzeitigen Lage. Die Charta der Grundrechte wird zum verbindlichen Maßstab für Handlungen der Europäischen Union. Lediglich in Großbritannien und Polen findet sie keine direkte Anwendung. Schließlich schafft der Vertrag von Lissabon erstmals die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens. Damit haben wir auf europäischer Ebene eine sozialdemokratische Forderung durchsetzen können, die uns auf bundespolitischer Ebene bislang leider verwehrt geblieben ist.
Sehr geehrter Herr Krautwurst, ich habe die von Ihnen vorgetragenen Bedenken sorgfältig überprüft, vermag diese aufgrund der obigen Argumente jedoch nur begrenzt zu teilen. Ich sehe den Vertrag von Lissabon als einen zentralen Baustein für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union an und habe ihm deshalb in großer Verantwortung vor meinen Wählerinnen und Wählern zugestimmt. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie von der Notwendigkeit meiner Zustimmung zum Vertrag von Lissabon überzeugen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Lydia Westrich, MdB