Frage an Ludwig Stiegler von Dietmar A. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrter Herr Stiegler,
ich kann nicht verstehen warum alle Rentner erst mit 67 Jahren in Rente gehen dürfen. Man müsste differenzieren zwischen Arbeitnehmer mit körperlicher schwerer und Arbeitnehmer mit leichter Arbeit. Es ist kaum möglich,das ein schwerarbeitender Bauarbeiter, der Kälte und Hitze ausgesetzt ist, sowie ein Eisengiesser, der sich täglich glühender Hitze aussetzt , die auch schon gesundheitliche Schäden aufweisen, kaum bis 67Jahren durcharbeiten können. Laut Berufsgenossenschaft gehen diese Rentner, das sie bereits körperliche Schäden aufweisen, schon mit durchschnittlich 60 in die Rente. Ich kann deshalb nicht verstehen, das Ihre Partei da zugestimmt hat. Ich möchte Sie und Ihre Parteien bitten, schon im Interesse der Arbeitnehmer, dieses Gesetz in der nächsten Legistlaturperiode wieder rückgängig zu machen!
Mit freundlichen Grüssen
Dietmar Anzer
Sehr geehrter Herr Anzer,
ich danke Ihnen herzlich für Ihre Anfrage. In der Tat stößt die so genannte "Rente mit 67" bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allerorten auf Widerstand und Kritik. Bei allem Verständnis für kritische Argumente fällt jedoch auf, dass drei zentrale Punkte oftmals nur halbherzig erwähnt oder gar ausgespart werden:
Erstens ist eine Erhöhung des Rentenalters angesichts unserer stark alternden Gesellschaft unvermeidlich, wenn wir wollen, dass die gesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft als wichtigste Säule der Altersversorgung durch die Beitragszahler finanzierbar bleibt. Zudem sieht das Gesetz zur Rente mit 67 vor, dass das Rentenalter nicht plötzlich erhöht wird, sondern langfristig und schrittweise vom Jahr 2012 bis zum Jahre 2029 -- einem Zeitpunkt, da dem Arbeitsmarkt aufgrund der demographischen Entwicklung rund 5 Millionen Menschen weniger zur Verfügung stehen werden. Wir müssen uns also davon befreien, die Situation heute mit dem Jahr 2029 zu vergleichen. Im Gegenteil, und das ist der dritte und meiner Ansicht nach wichtigste Punkt: Wir müssen die Arbeitswelt für die ältere Arbeitnehmerschaft neu justieren. Wir brauchen ein Umdenken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zugunsten älterer Menschen, müssen gemeinsam mit den Tarifparteien nach Möglichkeiten suchen, die Arbeitswelt menschlich und altersgerecht zu gestalten.
Lassen Sie mich diese Überlegungen im Folgenden konkretisieren:
Der Alterungsprozess in unserer Gesellschaft ist auf lange Sicht unumkehrbar. Angesichts unserer steigenden Lebenserwartung, der gesunkenen Geburtenrate und eines späteren Einstiegs in das Berufsleben ist es unabänderlich, dass auch die Belegschaften in den Unternehmen insgesamt älter werden. Wollen wir unseren Wohlstand in Zukunft halten und ausbauen, müssen wir die Beschäftigungsquote Älterer erhöhen. An einer Anhebung des Renteneintrittsalters führt also kein Weg vorbei. Sinnvoll kann diese Anhebung aber nur sein, wenn es uns gelingt, die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer entscheidend zu verbessern. Was wir brauchen, sind also altersgerechte Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze, die die Gesundheit so gut wie möglich schonen. Gesundheitliche Prävention muss auch im Betrieb gefördert werden, und zwar für jede Altersstufe, zudem ist es notwendig, Arbeitsprozesse zu überdenken und wenn nötig neu zu gestalten und zu organisieren. Reduzierung von Montagezeiten, weniger Überstunden für Ältere oder altersgemischte Teams sind da nur einige Beispiele von vielen. Auch Weiterbildung und fortlaufende Qualifizierung während des gesamten Erwerbslebens gehören zu einem Gesamtkonzept für alternsgerechtes Arbeiten. Nur wer die Chance bekommt, "lebenslang zu lernen", kann in heutiger Zeit seine Qualifikation ein ganzes Arbeitsleben lang erhalten bzw. immer wieder aufs Neue anpassen.
Älteren Arbeitnehmern muss weiterhin ein flexibler Übergang in die Rente ermöglicht werden. Wir wollen, dass die Möglichkeit einer kontinuierlichen Arbeitszeitabsenkung, wie sie das Altersteilzeitgesetz bereits heute bietet, stärker genutzt wird, und wir müssen darüber nachdenken, wie gerade die flexible Altersteilzeit öffentlich unterstützt und begleitet werden kann. Der gleitende Übergang aus dem Erwerbsleben durch Bezug einer Teilrente -- bislang wenig in Anspruch genommen -- muss ebenfalls erleichtert werden. Auch andere Modelle bieten sich an: So wäre es gut, einen Weg zu finden, wie Arbeitnehmer und/oder Arbeitgeber während der gesamten Dauer eines Beschäftigungsverhältnisses zusätzliche Rentenversicherungsbeiträge leisten können, um bei vorzeitigem Bezug der Altersrente Abschläge auszugleichen. Ebenso sinnvoll wäre es, wenn der Arbeitgeber zusätzliche Rentenversicherungsbeiträge entrichtete für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die körperlich oder psychisch besonders belastende Tätigkeiten ausüben. Denn natürlich haben Sie Recht, dass es Tätigkeiten ganz unterschiedlicher Belastung gibt und man deshalb "differenzieren muss", wie Sie schreiben. Letztlich ist auch zu prüfen, ob nicht zumindest als Übergangslösung -- bis sich die Beschäftigungssituation Älterer verbessert hat -- eine modifizierte Berufsunfähigkeitsrente für Beschäftigte ab dem vollendeten 60. Lebensjahr geschaffen werden kann, die nicht mehr in ihrem Beruf tätig sein können.
Die Arbeitswelt alters- und alternsgerecht zu gestalten ist tatsächlich eine der größten arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre. Deshalb hat das SPD-Präsidium auch eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die ich mit leite, die sich in Zusammenarbeit mit der SPD-Bundestagsfraktion und unter Beteiligung von Experten aus Wissenschaft und Praxis genau mit diesem Thema auseinandersetzen wird. Wichtig ist, dass dabei auch die Arbeitgeber in die Pflicht genommen und die Betriebsräte in den Unternehmen noch stärker als bisher eingebunden werden. Ziel ist es, bis zum Jahresende ein Konzept zu erarbeiten, wie auch in Zukunft flexible Rentenzugänge ermöglicht und die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen verbessert werden können. Menschenwürdige Arbeit in einer älter werdenden Gesellschaft -- das ist für uns alle eines der wichtigsten Themen für die Zukunft, aus ökonomischen und aus ethischen Gründen.
Mit freundlichem Gruß
Ludwig Stiegler