Frage an Lothar Bisky von Karolin K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Bisky,
im Rahmen des Projektes "Soziales Europa" an der HAWK Hildesheim würden wir von Ihnen gerne wissen, wie Sie sich konkret die Umsetzung der Finanzierung vorstellen, die ihre Partei gewähren will, um die Armut in Europa auf ein Minimum zu reduzieren.
Mit freundlichen Grüße
K. Köbel
Sehr geehrte Frau Köbel,
DIE LINKE fordert einen europäischen Pakt zur Beseitigung der Armut. Darin sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, durch entsprechende Maßnahmen zu sichern, dass in fünf Jahren kein Mensch in Europa mehr unterhalb der Armutsgrenze von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens leben muss. Wird das Ziel unterschritten, treten Sanktionen in Kraft.
2010 ist von der EU zum Jahr des Kampfes gegen die Armut erklärt worden. Dabei geht es aus unserer Sicht weniger um Sonntagsreden über Armut, als um konkrete Maßnahmen gegen Armut. Das ist auch dringend notwendig. In den ersten fünf Jahren des neuen Jahrtausends ist die Zahl der Armen in der EU von 55 auf 78 Millionen gestiegen. Die jetzige globale Finanz- und Wirtschaftskrise kann diese Entwicklung sehr verstärken.
Die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind vielgestaltig. Sie beginnen damit, dass die Antikrisenmaßnahmen sozial sein müssen. Wir brauchen einen Schutzschirm für die Menschen und sozial ausgerichtete Konjunkturpakete. Unternehmen sollten nur dann Steuergelder erhalten, wenn dadurch die Arbeitsplätze gesichert und zukunftsfähig und menschenwürdig gestaltet werden.
Die Konjunkturprogramme selbst müssen zu einem radikalen ökologischen Umbau unserer Lebens- und Wirtschaftsweise genutzt und sozial gerecht sowie solidarisch gestaltet werden. Dadurch könnten viele sinnvolle und zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden, aber auch bezahlbare Wohnungen für alle.
Alle Maßnahmen, die dazu dienen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse in sozialversicherungspflichtige, Existenz sichernde und menschenwürdige umzuwandeln, Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeit zu verkürzen und Arbeit umzuverteilen, tragen zur Verringerung von Armut bei. Ebenso eine gute schulische und berufliche Ausbildung, die allen jungen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft kostenfrei offen stehen muss. Darüber hinaus müssen die sozialen Sicherungssysteme armutsfest gemacht werden. Wer krank ist, muss die Behandlungen und die Medikamente erhalten, die er benötigt, unabhängig vom Geldbeutel und der Art der Krankenversicherung. Die Renten müssen einen Lebensabend in Würde ermöglichen und Arbeitslosigkeit darf nicht in die Armut führen. Das menschenunwürdige Hartz IV muss abgeschafft werden. Im Wesentlichen sind die Mitgliedstaaten für die Bekämpfung der Armut verantwortlich. Dort muss auch der größte Teil der Finanzierung aufgebracht werden. Dennoch geht es bei vielen Maßnahmen nicht um zusätzliche Kosten, sondern um Kursänderungen in der Politik. Die vielen Milliarden Euro, die jetzt eingesetzt werden, um Zockerbanken frisches Geld zur Verfügung zu stellen, ohne die Ursachen, die zur Finanzkrise führten zu beseitigen, sind im radikalen sozial-ökologischen Umbau Deutschlands besser aufgehoben. Der nicht zukunftsfähige neue Gesundheitsfonds könnte zugunsten einer Bürgerversicherung, in die alle einzahlen, reformiert werden. Und es muss auch endlich in die Verfassungspraxis umgesetzt werden, dass diejenigen, die mehr haben, auch mehr geben müssen. Zum Beispiel mit einer zusätzlichen Millionärssteuer; aber auch in der Einkommensteuer steht eine sozial gerechte Reform aus. Das sind einige wichtige Maßnahmen, wo ein Umsteuern der gegenwärtigen Politik dafür sorgen würde, dass das Geld an der richtigen Stelle ausgegeben wird, nämlich dort, wo es dazu beiträgt, gleichzeitig den globalen Herausforderungen und der Beseitigung der Armut zu dienen. Die Europäische Union kann mit ihrer Politik diese Entwicklungen befördern.
So in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch in der Struktur- und Förderpolitik. DIE LINKE hat ihre diesbezüglichen Forderungen für einen grundlegenden Wechsel in der Politik der EU hin zu einem sozialen, ökologischen, friedlichen und demokratischen Europa in ihrem Europawahlprogramm ausführlich dargelegt. Dazu muss die Lissabon-Strategie grundlegend verändert werden. Auch gemeinsame Rahmenentscheidungen bzw. Leitlinien könnten die Mitgliedstaaten auf den richtigen Kurs bringen; ebenso gemeinsame soziale Mindeststandards und Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten. Genauso entscheidend ist, dass für die Europäische Union Sozialstaatlichkeit ein ebensolcher Wert wird wie Rechtsstaatlichkeit. Und dass die politischen und sozialen Grundrechte für die Menschen Vorrang haben vor den Marktfreiheiten des Kapitals.
Was die EU-Finanzen betrifft, ist DIE LINKE der Meinung, dass mit den gegenwärtigen Haushaltsansätzen die Ziele der EU nicht erreicht werden können - weder die sozialen, noch die ökologischen und schon gar nicht die Beseitigung der regionalen und sozialen Ungleichheiten. Zunächst ist eine volle Ausschöpfung der Eigenmittelobergrenze erforderlich. Wenn es sich als notwendig erweist, muss diese notfalls angehoben werden. Wir können uns durchaus vorstellen, dass die Unternehmen, die von der EU am meisten profitieren, einen eigenen Beitrag zum EU-Haushalt leisten. Und natürlich kommt es darauf an, wofür die Gelder dann ausgegeben werden.
In einem stimme ich vollständig mit EU-Kommissar Verheugen überein: Er zog bei seinen Ausführungen über die EU-Erweiterung, deren Kosten für den Beitritt Polens weitaus geringer waren als die für den Kosovo-Krieg, das Fazit, dass der Zugewinn an Frieden und Stabilität mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Und ich möchte noch ergänzen: Das gilt in gleichem Maße für soziale Stabilität, die nur erreichbar ist, wenn endlich in den Mitgliedstaaten und der EU Politik und Wirtschaft sich an den Interessen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger und den globalen Herausforderungen ausrichten.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Lothar Bisky