Lars Büsing
PIRATEN
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Frage von Susanne E. •

Frage an Lars Büsing von Susanne E. bezüglich Staat und Verwaltung

Um es mit Herbert Grönemeyer zu parodieren:

Tief im Osten, wo die Sonne erwacht, liegt die Hauptstadt, die Hauptstadt, ja wer hättes gedacht!

Es ist rund ein Monatsmarsch bis nach Berlin. Im Slang gesprochen: Wissen die Politiker in Berlin überhaupt, was in Westfalen ab geht? Können sie es nachvollziehen? Berlin ist soweit weg. Für das kleine Ostwestfalen interessiert sich dort vermutlich eh keiner. Es liegt ja nicht im Osten.

Immer mehr wird versucht zu zentralisieren. Lokale (Länder) Rechte werden immer mehr durch Bundes- und sogar EU-Gesetze verdrängt.

Wir driften immer weiter vom Föderalismus hin zum Zentralismus.

Nicht nur in England besteht der Wunsch nach einem EU-Austritt - auch auf den deutschen Straßen, in den deutschen Kneipen wird immer häufiger darüber diskutiert, dass die EU uns mehr schadet als nützt. Tief im Westen und auch in Ostwestfalen höre ich immer häufiger die Frage, ob Berlin nicht zu weit entfernt ist - warum das eine oder andere auf Bundes- statt auf Landesebene gelöst wird.

Wie stehen sie zu dem Wunsch manches Bürgers ....

Mehr Föderalismus weniger Zentralismus?

Antwort von
PIRATEN

Sehr geehrte Frau Ebrecht,

das von Ihnen angesprochene Thema ist sehr weitläufig und umfassend, daher möchte ich etwas ausholen. Ich gebe hier, soweit nicht anders markiert, meine persönliche Meinung wieder.

Die von Ihnen angesprochene Zentralisierung sehe ich äußerst kritisch. In der Tat ist es so, dass die EU immer mehr Rechte der Nationalstaaten übernimmt, der Bund immer mehr Rechte der Länder, und die Länder immer mehr Rechte der Kommunen. Das Subsidaritätsprinzip, welches dafür sorgen soll, dass übergeordnete Stellen nur regeln, was nicht auf unterer Ebene geregelt werden kann, wird vielfach ausgehebelt oder übergangen. So verlieren die Bürger immer mehr an Mitsprache- und Mitbestimmungsrechten. Die Entscheider entfernen sich immer mehr von denjenigen, für die sie Entscheidungen treffen.

Um diesem Prozess entgegenzuwirken, mache ich mich für die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte auf kommunaler wie auf Landes- und Bundes-Ebene stark. Die Einführung von Volkentscheiden und Referenden befürworte und unterstütze ich. Bürger sollen nicht nur das Recht bekommen, auf demokratischem Wege selbst Gesetze auf den Weg zu bringen, sondern ebenso die Mittel an die Hand bekommen, vom Bundestag beschlossene Gesetze zu stoppen. Zusätzlich soll es Referenden bei der Übertragung von Hoheitsrechten an internationale Organisation wie die EU geben.

Zudem ist eine Dezentralisierung der Verwaltungen anzustreben. Macht hat - wie Vermögen - die Angewohnheit, sich zu konzentrieren. Dort, wo Macht existiert, wird immer versucht, die Macht auszubauen. So kommt es, dass die EU versucht, auf Kosten der Nationalstaaten ihre eigene Macht auszuweiten; die Nationalstaaten wiederum versuchen, den so erfahrenen Machtverlust auszugleichen, indem sie Macht von Ländern und Kommunen abziehen. Am Ende steht der Bürger, das Volk, von dem eigentlich alle Macht ausgehen soll, welcher/welches jedoch letztlich machtlos - oder sagen wir lieber ohnmächtig - zurückbleibt.

Diesen Prozess können wir nur stoppen und umkehren, wenn Bürger die ihnen gegebene Macht selbst ausüben und nicht abgeben. Deswegen ist der Ausbau der Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Einführung direkt-demokratischer Prozesse so wichtig. Letztendlich tragen wir, jeder für sich und alle gemeinsam, die Verantwortung dafür, wem wir unsere Macht anvertrauen. Wir haben es selbst in der Hand, die fortschreitende Zentralisierung zu beenden.

Der Ausbau internationaler Strukturen wie der EU führt auf natürliche Weise aber auch zu einer grundlegenden Neuverteilung der Macht. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts wirklich die beste Form des Zusammlebens für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts sind. Die hohe Mobilität der Menschen und die praktisch grenzenlosen Kommunikationsmöglichkeiten respektieren nationale Grenzen ebensowenig wie die globalisierte Wirtschaft. Der Wunsch, den Nationalstaaten wieder jene Rolle zuzuweisen, die sie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eingenommen haben, ist angesichts der heutigen Probleme zwar nachvollziehbar - aber es wäre der falsche Weg. Unsere Zukunft liegt in Europa, und unsere Aufgabe ist es, dieses als Ganzes zu reformieren und auf eine wirklich demokratische und rechtstaatliche Basis zu stellen.

Die Piratenpartei fordert ein "Demokratie Add-on" für Europa: "Wir PIRATEN fordern die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung (Verfassungskonvent) für die Europäische Union. Ziel des Verfassungskonvents ist es, das politische System der EU und ihre Beziehung zu den Mitgliedstaaten und Regionen neu zu strukturieren und auf eine demokratische Basis zu heben. Der Prozess der Ausarbeitung einer europäischen Verfassung muss transparent geschehen und die europäischen Bürgerinnen und Bürger umfassend beteiligen. Die Mitglieder dieser Versammlung sollen demokratisch gewählt werden und gleichzeitig die Vielfalt innerhalb der Union repräsentieren. Über den erarbeiteten Verfassungsentwurf stimmen die Bürger unionsweit und zeitgleich ab. " http://wiki.piratenpartei.de/Wahlen/Bund/2013/Wahlprogramm#Europa

Die Piratenpartei hat, anders als die bisherigen Regierungsparteien, eine echte Vision für Europa.

Es gibt ohne Zweifel große Probleme und Fehlentwicklungen in der EU. Ein Austritt wäre jedoch ein Rückfall in die Vergangenheit und kein Schritt in die Zukunft. Wir müssen die größten Anstrengungen unternehmen, um die europäische Idee mit neuem Leben zu füllen. Die EU hat uns über die Jahrzehnte, trotz allem was falsch läuft (gerade auch in der Wirtschafts- und Währungspolitik) mehr genutzt als geschadet. Nicht zuletzt die fast 70 Jahre Frieden in Europa - einmalig in der Geschichte - hängen eng mit der Geschichte der EU zusammen.

Wir stehen in Europa vor schwierigen Entscheidungen, schwierigen Zeiten - nicht nur wegen der Wirtschafts- und Währungskrise und der politischen Dekadenz in Brüssel und anderswo. Auch der demographische Wandel ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Wohlstand und Lebensqualität in ganz Europa. Ebenso die nationalistischen Tendenzen in verschiedenen Ländern. Wir werden jedoch mit den Rezepten von gestern die Probleme von morgen nicht lösen können.

Persönlich bin ich der Überzeugung, dass wir Europa ausbauen müssen, zu einer übergeordneten demokratischen Institution, welche in weiten Teilen die Rolle der Nationalstaaten des letzten Jahrhunderts übernimmt. Gleichzeitig sollte jedoch vieles, was die Nationalstaaten früher geregelt haben, wieder näher bei den Menschen entschieden werden, auf regionaler oder kommunaler Ebene. Die uns bekannten Nationalstaaten sollten daher viel ihrer Macht abgeben, im Zuge dessen womoglich gar zu Verwaltungseinheiten geschrumpft werden (auch wenn diese Entwicklung Jahrzehnte dauern könnte). Ob wir bereit sind, diesen Weg zu gehen, wird sich zeigen.

In jedem Fall benötigt Europa jedoch ein demokratisches Fundament. Nur die Europäer selbst können entscheiden, welche Rolle Europa, ihre Länder und Regionen in Zukunft in ihrem Leben spielen sollen. Ob wir die Vereinigten Staaten von Europa oder ein Europa souveräner Staaten bekommen - oder sogar "gar kein Europa" - sollen die Bürger selbst entscheiden, nicht die Bürokratien und politischen Eliten. Wenn wir es schaffen, Europa im Sinne seiner Bürger zu entwickeln, habe ich keine Zweifel, dass wir ein Europa bekommen, in dem es sich lohnt zu leben und Kinder groß zu ziehen.

Zum Weiterlesen:
Europa im Wahlprogramm der Piratenpartei:
http://wiki.piratenpartei.de/Wahlen/Bund/2013/Wahlprogramm#Europa
Direkte Demokratie im Wahlprogramm der Piratenpartei:
http://wiki.piratenpartei.de/Wahlen/Bund/2013/Wahlprogramm#Demokratie_wagen

Ich hoffe, ich konnte mit diesen doch recht ausführlichen Ausführungen ihre Frage beantworten.

Mit freundlichen Grüßen,
Lars Büsing