Frage an Konstantin von Notz von Fred G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr von Notz,
Drastische Maßnahmen wie ein harter Lockdown sind in der Pandmie sicherlich für einen begrenzten Zeitraum notwendig. Irgendwann sind aber alle Mittel ausgeschöpft, die man der Bevölkerung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zumuten kann und man muss möglicherweise den Begriff der Solidarität (nämlich mit allen sozialen Gruppen) umdenken, weil die sozialen, wirtschaftlichen und letztendlich auch gesundheitlichen Folgen zu groß werden und den Nutzen eines Lockdowns überwiegen könnten. Man muss dann vielleicht mit einer höheren Virusverbreitung leben und sich auf verträglichere Maßnahmen wie flächendeckende Schnelltests, Masken usw. beschränken.
Deshalb meine Fragen:
1. Denken Sie über ein solches Szenario nach, in dem man irgendwann nicht mehr vorwiegend auf epidemiologische Werte schaut und trotzdem stufenweise lockert? Oder sind für Sie persönlich Inzidenzzahlen und die Situation der Krankenhäuser immer das Maß aller Dinge, auch wenn der Lockdown vielleicht 6, 7, 8 Monate dauert und an anderer Stelle teils schwer abzuschätzende Schäden anrichtet?
2. Was tun Sie und Ihre Fraktion, um diese Schäden einzurechnen und mit dem Nutzen eines harten Lockdowns abzuwägen?
3. Setzen Sie sich dafür ein, dass im Bundestag mehr über diese schwierigen Dilemmata diskutiert und auch entschieden wird oder nehmen Sie die aktuelle Dominanz von Kanzleramt und Landesregierungen gegenüber den Parlamenten in Kauf?
Sehr geehrter Herr Goldmann,
haben Sie herzlichen Dank für Ihre Frage und Ihr Interesse an unseren Positionen. Über beides habe ich mich sehr gefreut. Entschuldigen Sie bitte zugleich, dass ich Ihnen erst heute wieder antworte.
Lassen Sie mich vorab einmal sagen: Es ist von ganz enormer Bedeutung, dass gerade in diesen schwierigen Zeiten der pandemischen Krise, die wir nur gemeinsam und unter der Einhaltung besonderer Maßnahmen meistern können, Menschen wie Sie unsere Bürgerrechte und die gesellschaftlich Solidarität so stark im Blick haben und hochhalten.
Derzeit sind wir mehr denn je auf transparente und unabhängige Empirie und Prognosen aus der Wissenschaft angewiesen, um als Politik verhältnismäßige wie tatsächlich effektive Maßnahmen treffen zu können. Wir brauchen evidenzbasierte, fundierte Entscheidungen, die transparent und nachvollziehbar kommuniziert werden.
Wir müssen die Entscheidungen – vor allem aufgrund der mit ihr einhergehenden äußerst bedeutsamen Grundrechtsabwägungen – stetig neu bewerten und reflektieren, die Maßnahmen immer wieder auf ihre Notwendigkeit hin hinterfragen, hinsichtlich ihrer Geeignetheit der aktuellen Situation anpassen und sie auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüfen.
Auch nach fast einem Jahr Leben mit der Pandemie, fehlt es immer noch an unabhängigen Evaluationen bereits getroffener Maßnahmen. Dass die Bundesregierung seit langer Zeit nur auf Sicht fährt, birgt durchaus Gefahren für unsere freiheitlich-demokratischen Grundrechte und für die so wichtige Akzept der Maßnahmen in der Bevölkerung. Und nur, wenn wir, wie Sie sagen, auch gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Risiken abschwächen, können wir wirklich und auf Dauer unsere Freiheiten wieder vollumfänglich zurückgewinnen.
Ihre Sorgen um unsere Freiheitsrechte kann ich gut nachvollziehen. Ich versichere Ihnen, dass meine Fraktion und ich auch weiterhin dafür eintreten, dass Grundrechte auch in der Pandemie gewahrt bleiben und wir die derzeitigen Einschränkungen so schnell es irgend möglich ist wieder zurückfahren können. In umfassenden Initiativen haben wir in den vergangenen Monaten immer wieder aufgezeigt, wo die verfassungsgemäßen und rechtsstaatlichen Grenzen liegen und sind froh, dass die Arbeit des Parlaments von der Öffentlichkeit kritisch begleitet wird.
Die von uns wiederholt vorgebrachte Kritik, beispielsweise bezüglich neuer, weitreichender Befugnissen des Bundesgesundheitsministers im Infektionsschutzgesetz, wurde wiederholt von unabhängiger Seite bestätigt. Dies bestätigt uns in unserem Einsatz bezüglich der zwingenden Beteiligung von Bundestag und Bundesrat und der Notwendigkeit öffentlicher Debatten.
Durch unser Engagement konnten wir unter anderem erreichen, dass die Bundesregierung nicht einen nationalen Epidemiefall ohne die Beteiligung der Bundestag ausrufen kann. Denn dies hätte dazu führen können, dass einmal getroffene Entscheidungen später nicht wieder zurückgenommen werden können. Wir bleiben dabei: Über den Beginn und das Ende eines pandemischen Notfalls muss das Parlament und nicht allein die Regierung entscheiden können.
Auch wenn es inzwischen erste Impfstoffe gibt, ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Mit Blick unter anderem auf die sich weiter rasch ausbreitenden verschiedensten Mutationen, wäre es fatal, kurzsichtig und unvernünftig zu handeln, und alles bereits Erreichte wieder aufs Spiel zu setzen. Darin liegt eine äußerst reale und enorm große Gefahr. Und das schaffen wir nur gesamtgesellschaftlich, mit kühlem Kopf, einem langen Atem und Lockerungen mit Augenmaß. Auch wenn wir in diesen Krisenzeiten eben nicht wissen, wie sich letztendlich alles entwickeln wird, müssen wir doch mit der Situation bestmöglich umgehen und verantwortungsvolle Entscheidungen für das Wohl und den Schutz von Leben und Gesundheit aller treffen. Ähnlich wie bei der Bekämpfung der Klimakrise braucht es in diesen Krisenzeiten nun einen Zusammenhalt, gerade auch über Landesgrenzen hinweg, um diese riesige Herausforderung vor der wir als Gesellschaft stehen, meistern zu können.
Es braucht dringend mehr Perspektive und Planungssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger und daher haben wir einen Antrag mit umfassenden Forderungen hierzu in den Bundestag eingebracht. Mit einem Stufenplan und einer Strategie wollen wir unter anderem die Kommunikation verbessern und mehr Orientierung, Berechenbarkeit, aber vor allem auch mehr Rechtsstaatlichkeit erreichen. Unseren umfangreichen Antrag finden Sie hier: https://www.gruene-bundestag.de/themen/corona-krise/ein-stufenplan-fuer-perspektive-und-hoffnung.
Auch um die gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Schäden der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Maßnahmen zu minimieren und einer Verschärfung der sozialen Spaltung in unserer Gesellschaft zu begegnen schlagen wir die Einrichtung eines wissenschaftlichen Pandemierates vor. Er soll den Bundestag und die Bundesregierung interdisziplinär beraten und eine längerfristige Strategie entwickeln. Auch hierzu haben wir einen umfangreichen Antrag in den Bundestag eingebracht, den Sie hier finden: https://www.gruene-bundestag.de/themen/gesundheit/pandemierat-jetzt-gruenden.
Aktuelle, sehr viel ausführlichere Bewertungen und Hintergründe zu unseren Aktivitäten in Bezug auf die Covid19-Bekämpfung finden Sie auf unserer eigens eingerichteten Landingpage zum Thema:
Corona-Krise: Grüne im Bundestag (gruene-bundestag.de)
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meinen Ausführungen unsere Positionen erläutern.
Mit besten Grüßen nach Berlin!
Konstantin v. Notz