Frage an Kersten Artus von Robert K. bezüglich Soziale Sicherung
Liebe Frau Artus,
wie ich gelesen habe sind Sie sowohl bei der Linken, als auch bei den Gewerkschaften engagiert.
Nun setzt sich Die.Linke für einen gesetzlichen Mindestlohn ein, die Gewerkschaft IG Metall spricht sich, wie auch heute wieder im Spiegel online berichtet wird, gegen einen Mindestlohn aus. Treten Sie jetzt aus der Gewerkschaft aus oder verlassen Sie Die.Linke ?
Sehr geehrter Herr Krause,
vielen Dank für Ihre Frage. Ich beabsichtige weder aus der Linken noch aus meiner Gewerkschaft ver.di auszutreten.
Der Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen, Oliver Burkhard, wird in der Presse wie folgt wiedergegeben: "Erst, wenn tariflich gar nichts mehr geht, muss der Gesetzgeber die unterste Schamgrenze ziehen." Außerdem lese ich, dass er gesagt haben soll, der Mindestlohn sei nur die zweitbeste Lösung.
Zunächst einmal hat damit nicht DIE Gewerkschaft gesprochen, sondern es wird ein hauptamtlicher Mitarbeiter der IG Metall zitiert. Das Recht auf freie Meinungsäußerung steht ihm zu. Der Presse steht zudem das Recht zu, ihn zu zitieren. Dann finde ich, dass er sich gar nicht gegen die Position der Linke oder der Gewerkschaft ver.di stellt.
Ich möchte Ihnen gerne darlegen, warum das so ist:
Tarifrecht genießt in Deutschland einen hohen Schutz. Fakt ist aber, dass nur noch 49 Prozent aller Betriebe im Westen und 24 Prozent aller Betriebe im Osten der Tarifbindung unterliegen - weil die Arbeitgeber aus den Arbeitgeberverbänden austreten oder nie eingetreten sind und weil die Beschäftigten manchmal zu schwach sind, um sich zu organisieren. Warum? Weil sie zum Beispiel nur befristete Verträge haben oder die Betriebe zu klein sind, d.h. es nicht einmal einen Betriebsrat gibt oder das Kündigungsschutzgesetz nicht für sie gilt.
Dann gebe ich Oliver Burkhard Recht, dass gesetzliche Mindestlöhne nur die zweitbeste Lösung sind. Die Erstbeste wäre, dass Tarifgehälter, die zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaft ausgehandelt wurden, in der gesamten Branche für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dies ist für die Briefzusteller/-innen geschehen. Dafür mussten aber zwei Voraussetzungen gegeben sein: Mindestens 50 Prozent der Betriebe einer Branche müssen in einem Arbeitgeberverband organisiert und mindestens 50 Prozent der in der Branche Beschäftigten in der den Tarifvertrag abschließenden Gewerkschaft Mitglied sein. Sonst kann die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gar nicht erst von Arbeitgebern oder Gewerkschaft beim Tarifausschuss der Bundesregierung beantragt werden.
Warum die Allgemeinverbindlichkeit wichtig ist, ergibt sich aus dem Wirtschaftssystem dieses Landes: Die in Deutschland herrschende Marktwirtschaft zeichnet sich durch Wettbewerb aus. Das Tarifrecht ist ein wichtiges Instrument im Wettbewerb. Es sichert Transparenz bei den Löhnen und Gehältern - gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Es sichert zudem den auf abhängige Beschäftigung angewiesenen Menschen (also der Mehrheit der Bevölkerung) das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes (Grundgesetz!). Nur dann können sie davon ausgehen, dass sie in jedem Betrieb, in dem sie arbeiten möchten, ähnliche Entgeltbedingungen vorfinden. Dieses Prinzip ist aber durch Dumpinglöhne, Tarifflucht und der Deregulierung des Arbeitsrechts (Leiharbeit, Befristungen, Kündigungsschutz) schon lange entwertet worden.
Die Gewerkschaften ver.di und NGG machen sich deswegen bereits seit Jahren dafür stark, dass gesetzliche Mindestlöhne eingeführt werden. Die Linke unterstützt die Gewerkschaften und ich bin hocherfreut, dass die SPD sich jetzt entschieden hat, Mindestlöhne zu fordern. Ein bisschen sehr spät, aber immerhin.
Ich hoffe, ich konnte Ihre Frage zufriedenstellend beantworten. Wenn Sie weitere Fragen haben, freue ich mich darauf.
Mit freundlichen Grüßen
Kersten Artus