Scheitern mit Ansage. Verkehrsversuch in Gießen.
Sehr geehrte Frau Schleenbecker,
als jemand, der den Verkehrsversuch grundsätzlich begrüßt und die Umbaumaßnahmen geduldig hingenommen hat, reißt mir der Geduldsfaden bei der Erkenntnis, dass die politisch Verantwortlichen offenbar geglaubt haben, moralisch über dem positiven Recht zu stehen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum man trotz anders lautender juristischer Warnschüsse im Vorfeld so viel Steuergeld riskiert, scheinbar in dem festen Glauben daran, dass Moral über Recht siegen werde und die Richter schon einsehen werden, dass dieser Verkehrsversuch vielleicht nicht legal, aber doch legitim ist. Wie sehen Sie persönlich die Frage der politischen Verantwortungsübernahme?
Mit besten Grüßen, S. L.
Sehr geehrte Frau L.,
ich verstehe Ihre Frustration bei dem Thema sehr gut. Ich bedauere sehr, dass die Sicherheit von Fahrradfahrenden und klimaschützende Aspekte in der Entscheidung des VGH nicht das Gewicht bekommen haben, wie weite Teile der Stadtgesellschaft es sich gewünscht haben. Dass die Sicherheit von Fahrradfahrenden im Anlagenring nicht ausreichend ist, erschließt sich jeder und jedem, die täglich mit dem Rad durch die Stadt fahren. Deshalb wird er auch nicht von diesen benutzt, was zu wenig Unfällen führt. Das Gericht hat dies anders bewertet, was selbstverständlich zu akzeptieren ist.
Ich wünsche mir eine Gesetzeslage, die die aktuellen Gefahren, wie beispielsweise den Klimawandel, berücksichtigt und nicht veraltet auf einer Welt vor 60 Jahren fußt. Dafür baue ich auf die anstehende Reform des Straßenverkehrsrechts, wo den veränderten Bedingungen Rechnung getragen werden soll. Unser aller Anliegen sollte es sein, die Sicherheit der Fahrradfahrenden auf dem Anlagenring zu verbessern und den nicht motorisierten Verkehr in der Stadt zu stärken.
Die Rücktrittsforderungen an Herr Wright sehe ich als unbegründet an, da er, soweit ich das beurteilen kann, eine Abwägung zwischen den unterschiedlichen Interessen der einzelnen Verkehrsteilnehmer*innen getroffen hat. Der Verkehrsversuch ist in einer breiten öffentlichen Beteiligung dargestellt worden. Im Stadtparlament ist der Versuch ebenfalls diskutiert worden und mehrheitlich auf Zustimmung gestoßen. Die erforderlichen Haushaltsmittel hat ebenfalls das Parlament explizit zur Verfügung gestellt. Es gibt daher keinen Anlass für einen Rücktritt. Im Gegenteil: Bürgermeister Wright hat innerhalb kürzester Zeit enorme Verbesserungen für den Rad- und Fußverkehr in der Stadt Gießen auf den Weg gebracht. Diese und weitere dringend notwendige Veränderungen der Nahmobilität brauchen wir, um unsere Städte zukunftsfähig zu gestalten.
Mit freundlichen Grüßen,
Katrin Schleenbecker