Frage an Katja Kipping von Robert H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Kipping,
derzeit liegt dem Bundestag folgende Petition vor gemäß der Plattform openPetition. Mit der Petition wird gefordert, dass § 93d Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz wie folgt geändert wird: Das Wort "keine" wird gestrichen und durch "einer" ersetzt. Der Text lautet wie folgt: Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf einer Begründung. Diese besteht aus einer Darstellung des Sachverhalts (Teil 1) und einer rechtlichen Begründung (Teil 2).
Erkennen Sie, dass die derzeitige Regelung dazu führt, dass Richter/innen eher die Motivation haben, eine Verfassungsbeschwerde abzulehnen, weil sie dann weniger Zeit zur Beendigung des Verfahrens benötigen als wenn sie eine seitenlange Begründung schreiben müssen und dadurch entsprechend Zeit aufwenden müssen? Stimmen Sie zu, dass die Änderung einen ungefähr gleichen Zeitaufwand sowohl bei stattgebenden als auch ablehnenden Entscheidungen hätte?
Stimmen Sie mir zu, dass die o.g. Gesetzesänderung zu mehr Transparenz in der Öffentlichkeit führen würde? Wäre dies nicht gerade im Hinblick auf nachvollziehbare gleiche Rechtsanwendung dringend geboten?
Sehen auch Sie, dass sich das Verfassungsgericht aufgrund der derzeitigen Regelung der öffentlichen Kontrolle entzieht?
Stimmen sie mir zu, dass die Gewaltenteilung erst wiederhergestellt ist, wenn alle Entscheidungen des Verfassungsgerichtes begründet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?
Werden Sie dieser Petition zustimmen?
Mit freundlichen Grüßen
Robert Hübner
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Frage. Ich kenne die Petition nicht und werde Ihr Schreiben zum Anlass nehmen, mich mit den rechtspolitischen Expert*innen der Fraktion zu dem Thema zu beraten.
Den Eindruck, dass das Bundesverfassungsgericht leichtfertig Verfassungsbeschwerden abweisen würde, teile ich nicht. Eine Nichtannahme aus Gründen der Arbeitsersparnis halte ich nach meiner Erfahrung auch nicht für wahrscheinlich. Die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde muss einstimmig durch drei Richter*innen erfolgen. Es käme also schon einer Verschwörung gleich, wenn alle drei eine berechtigte Beschwerde ablehnen würden, lediglich um sich den Begründungsaufwand zu sparen.
Für die Begründung einer Nichtannahme spräche sicher, dass dies eventuell zu einer Minderung der Enttäuschung bei Nichtannahme führen würde und ggf. Beschwerdeführer sich einen Eindruck häufiger Ablehnungsgründe verschaffen könnten.
Dies ist jedoch andererseits auch derzeit durch Begründungen von Nichtannahmen auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts möglich. Denn wenn auch die Begründung von Nichtannahme-Entscheidungen nicht vorgeschrieben ist, so kann diese erfolgen, wovon die Kammern auch regelmäßig Gebrauch machen. (Was auch gegen die These der Begründungsvermeidung zur Arbeitserleichterung spricht.) Da gegen eine Nichtannahme-Entscheidung auch keine Rechtsmittel möglich sind, hätte die Begründung der Entscheidung rechtlich gesehen keinen Mehrwert für den Beschwerdeführenden selbst.
Andersherum sehe ich die Gefahr, dass, wenn sich drei Richter*innen nicht nur auf eine einstimmige Entscheidung, sondern auch auf eine einstimmige ausführliche Begründung auch für offensichtlich unbegründete Verfassungsbeschwerden verpflichtet wären, das Gericht schnell an seine Kapazitätsgrenzen käme.
Von daher sehe ich zumindest die Gefahr, dass in solch einem Fall begründete Verfassungsbeschwerden nicht zeitnah bearbeitet würden. Immerhin gehen zusätzlich zu anderen Verfahrensarten jedes Jahr 5.000-6.000 Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe ein, die von 16 Richter*innen bearbeitet werden müssen.
Insofern sehe ich durchaus, dass man über die Regelung diskutieren kann und sich dies auch lohnt. Eine Verletzung der Gewaltenteilung oder eine Verkürzung des Rechtswegs sehe ich in der aktuellen Reglung jedoch nicht.
Freundliche Grüße
Katja Kipping