Frage an Katja Kipping von Andreas H. bezüglich Soziale Sicherung
Hallo Frau Kipping.
Eine Gruppe, die in Deutschland derzeit von großer sozialer Ungerechtigkeit betroffen ist, sind Erwerbsunfähige, deren Erwerbsunfähigkeit vor 2014 festgestellt wurde. Durch das Rentenpaket 2014 und dann noch mal durch das Rentenpaket 2018 wurde die Erwerbsunfähigkeitsrente für Neuzugänge ganz erheblich verbessert. Was viele nicht wissen, ist, dass vor 2014 anerkannte E rwerbsunfähige davon vollkommen ausgenommen sind. Das führt zu der merkwürdigen Situation, dass es in Zukunft zwei Klassen von Erwerbsunfähigen gibt. Die besser gestellten von nach 2018 und die schlechter gestellten von vor 2014. Und dies bleibt dann so bis weit in die Zukunft lebenslang so. Dies ist eine unglaubliche Ungerechtigkeit, die man nicht so lassen kann. Da gibt es eine Gruppe von vergessenen Menschen, die durch unverschuldete Krankheit in Armut gestürzt sind und an die keiner mehr denkt, wenn es um Verbesserungen des Sozialsystems geht. Im Vergleich zum vorherigen Einkommen beträgt die Erwerbsminderungsrente ungefähr nur ein Drittel davon. Ein gewaltiger sozialer Absturz durch unverschuldete Krankheit. Könnten Sie im Deutschen Bundestag eine Anfrage stellen, um wie viel Prozent jemand schlechter gestellt ist, weil er bereits 2013 erwerbsgemindert wurde, gegenüber jemandem, der nach der vollen Umsetzung des Rentenpaket 2018 erwerbsgemindert wird und wie man diese ungeheure Ungleichbehandlung von Menschen begründet?
Viele Grüße
A. H.
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Frage zum Thema Erwerbsminderungsrente. Da Ihre Frage doch recht detailreich ist, habe ich mich dazu mit unseren Fachreferent*innen beraten. Diese haben mir folgenden Stand mitgeteilt:
Sie haben absolut Recht: Sämtliche Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente der vergangenen Jahre und die geplante weitere Verbesserung im aktuell vorliegenden Rentenpaket ("RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz") betreffen ausschließlich Menschen, die nach Inkrafttreten der entsprechenden Gesetzesänderungen Erwerbsminderungsrente beantragen müssen. Eine enorme Ungerechtigkeit, gegen die wir im Bundestag mit allen Mitteln angehen. Unseren Antrag, der am Montag (5. November 2018) auch in der Anhörung zum RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz diskutiert wird, finden Sie hier: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/000/1900031.pdf; die Anhörung wird im Internet übertragen, Näheres dazu finden Sie hier: https://www.bundestag.de/arbeit#url=L2F1c3NjaHVlc3NlL2ExMS8tLzU3MzQyNA==&mod=mod538356)
Ihre Frage, wie groß der Rentenunterschied zwischen jemandem ist, der/die ab Juli 2014 Erwerbsminderungsrente beantragt gegenüber jemandem, die 2019 Erwerbsminderungsrente beantragt, ist allerdings nicht ganz leicht zu beantworten, obwohl alle Daten im Grunde auf dem Tisch liegen:
- Mit dem Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz (in Kraft zum 1.7.2014) wurde das Ende der Zurechnungszeit vom 60. auf die Vollendung des 62. Lebensjahres verlängert.
- Mit dem Erwerbsminderungsrenten-Leistungsverbesserungsgesetz (2017) verlängert sich die Zurechnungszeit ab 1.1.2018 schrittweise bis zum Jahr 2024 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres. Wer 2018 EM-Rente beantragen muss, dessen Zurechnungszeit endet damit einem Alter von 62 Jahren und 3 Monaten, für 2019 gilt 62 Jahre und 6 Monate.
- Mit dem aktuell vorliegenden RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz will die Bundesregierung nachbessern. Der aktuelle Gesetzentwurf sieht vor, dass das Ende der Zurechnungszeit ab 2020 mit der Regelaltersgrenze angehoben wird - die Erwerbsminderungsrente wird also so berechnet, als hätte die Betroffene bis zur Altersgrenze weiter gearbeitet.
Die Zurechnungszeit dient dabei zur Berechnung der Höhe der Erwerbsminderungsrente. Ein Beispiel: Frau M muss mit Vollendung ihres 48. Lebensjahres im Juni 2014 Erwerbsminderungsrente beantragen. Für sie endet die Zurechnungszeit also mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Das heißt: für die Berechnung der Erwerbsminderungsrente wird (etwas vereinfacht) davon ausgegangen, dass Frau M von ihrem 48. Geburtstag bis zum 60. Geburtstag so Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt hat wie während ihres vorherigen Erwerbslebens, also für weitere 12 Jahre. Eine Verlängerung der Zurechnungszeit führt also zu einer höheren Erwerbsminderungsrente. Allerdings, das wissen Sie ja, werden Abschläge von der Erwerbsminderungsrente abgezogen, die Rente wird also noch reduziert.
Nun zu Ihrer Frage:
Der Einfachheit halber unterstelle ich, dass Frau M während ihres gesamten Berufslebens immer exakt das Durchschnittseinkommen verdient (2018: 3156 Euro monatlich) und entsprechende Beiträge in die Rentenversicherung geleistet und mit 20 Jahren zu arbeiten angefangen hat. Frau Ms Biographie verschiebe ich dann einfach jeweils um ein paar Monate nach hinten, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regelungen deutlich zu machen. Die Rentenhöhe ist berechnet mit aktuellen Zahlen für Westdeutschland (aktueller Rentenwert ab 1.7.2018). Eine Berechnung für Ostdeutschland würde das gleiche Verhältnis zwischen den einzelnen Jahren, aber andere Rentenhöhen ergeben.
Bitte beachten Sie, dass es sich dabei um eine grobe, überschlägige Rechnung handelt. Zudem ist es extrem unwahrscheinlich, dass jemand durchgängig exakt das Durchschnittseinkommen verdient. Das habe ich hier aber ignoriert, weil es bei der Berechnung ja in erster Linie um das Verhältnis zwischen früherem und späterem Eintritt in die Erwerbsminderungsrente geht.
Das heißt
Erwerbsminderungsrente vor 1.7.2014:
Zurechnungszeit endet mit dem 60. Geburtstag
40 Entgeltpunkte, Rente 2. Halbjahr 2018: 1142,83 Euro monatliche Erwerbsminderungsrente (nach Abzug der Abschläge von 10,8% von 1281,20 Euro ungeminderter Rente)
Erwerbsminderungsrente beantragt am 1.10.2014:
Zurechnungszeit endet mit dem 62. Geburtstag
42 Entgeltpunkte, Rente 2. Halbjahr 2018: 1199,97 Euro monatliche Erwerbsminderungsrente (nach Abzug der Abschläge von 10,8% von 1345,26 Euro ungeminderter Rente)
Erwerbsminderungsrente beantragt am 1.3.2018 Zurechnungszeit endet mit dem Alter von 62 Jahren, 3 Monaten
42,25 Entgeltpunkte, Rente 2. Halbjahr 2018: 1207,11 Euro monatliche Erwerbsminderungsrente nach Abzug der Abschläge von 10,8% von 1353,27 Euro ungeminderter Rente)
Erwerbsminderungsrente beantragt am 1.1.2020 (vorausgesetzt das aktuelle Rentenpaket wird verabschiedet wie von der Bundesregierung eingebracht) - hier wird die Berechnung allerdings sehr schräg, um es aber vergleichbar zu halten, rechne ich auch hier mit dem aktuellen Rentenwert von 2018 - der 2020 selbstverständlich nicht gelten kann Zurechnungszeit endet mit dem Alter von 69 Jahren, 9 Monaten
42,75 Entgeltpunkte, Rente nach dem aktuellen Rentenwert 2018 Rente 2. Halbjahr 2018: 1221,40 Euro monatliche Erwerbsminderungsrente nach Abzug der Abschläge von 10,8% von 1369,28 Euro ungeminderter Rente)
Der Eintritt vor dem 1.7.2014 und nach dem 1.1.2020 macht also einen Unterschied bei der Erwerbsminderungsrente von etwa 7 % aus - in unserem Beispiel 1221,40 Euro gegenüber 1142,83 Euro.
… Das waren jetzt viele Zahlen, aber ich hoffe, ich habe unsere Position gut verdeutlichen können.
Freundliche Grüße
Katja Kipping