Frage an Katja Kipping von Andreas T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Kipping,
nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen haben Sie sich mit der Forderung nach schnellstmöglichen Neuwahlen zu Wort gemeldet. Sind Sie sich der Gefahr bewusst, dass unter den gegebenen Umständen der Bundestag dann noch weiter aufgebläht werden könnte? Statt der gesetzlich vorgesehenen 598 Parlamentarier sitzen jetzt schon 709 Abgeordnete im Reichstagsgebäude und kosten uns Steuerzahler zusätzliche Millionen, ohne dass wir Steuerzahler dafür ein Mehr an Qualität erwarten dürfen.
Meine Frage: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass noch VOR Ausrufung von Neuwahlen ein neues Bundeswahlgesetz verabschiedet wird?
Hintergrund meiner Frage ist die Tatsache, dass allein durch die Wahlergebnisse in Bayern so viele Überhang- und Ausgleichsmandate enstanden sind, dass es einer Vergrößerung auf 709 Mandate bedurfte, um den Parteienproporz wieder herzustellen. Bei einer Neuwahl dürfte die Diskrepanz zwischen gewonnenen Direktmandaten für die CSU und deren Zweitstimmenergebnis noch größer ausfallen. Ein kleines Rechenbeispiel: Die CSU gewann im September 46 Direktmandate, erreichte durch ihre 38,8% in Bayern aber nur 6,2% der bundesweiten Zweitstimmen (das entspricht bereinigt um den Abzug der unter 5% gebliebenen Kleinstparteien knapp 6,5%). Damit 46 Sitze dem Anteil von 6,5% entsprechen, bedurfte es einer Gesamtzahl von 709 Abgeordneten – simple Mathematik. Nun stellen Sie sich vor, bei Neuwahlen gewinnt die CSU wieder alle 46 bayerischen Direktmandate, aber fällt weiter auf z.B. 35% der Zweitstimmen. Das wären dann bereinigt etwa 5,9% bundesweit. Da wären wir dann schon bei etwa 780 Abgeordneten! Das können Sie nicht ernsthaft wollen. Vor Neuwahlen MUSS ein neues Wahlgesetz her!
Mit freundlichen Grüßen
A. T.
Sehr geehrter Herr T.,
vielen Dank für Ihre Frage. Im Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht in der damaligen Fassung für in Teilen verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber aufgetragen, dies zu beheben. Es gab dafür gute Gründe. Diese wurden mit einem Gesetz behoben, das von Union, SPD, FDP und Bündnis90/ Die Grünen gemeinsam verabschiedet wurde. Es hat andere Probleme geschaffen.
Meine Fraktion hat damals klar gesagt, wenn es keine verfassungsgemäße Alternative gäbe, müsste die zu erwartende Vergrößerung des Bundestages um der Demokratie willen selbstverständlich hingenommen werden. Da es aber eine verfassungsgemäße Alternative gab, die wir auch vorgeschlagen haben, habe ich bedauert, dass es dafür damals keine Mehrheit dafür gab.
Doch um es mit einem Bibelzitat zu sagen: „Alles Vorhaben und alles Tun hat seine Zeit.” Im unmittelbaren Vorfeld einer Wahl und unter erheblich Zeitdruck das Wahlgesetz zu ändern, halte ich für keine gute Idee.
Das Wahlgesetz ist für die Legitimität der Volksvertretung grundlegend. Deswegen ist es wichtig, dass das Wahlgesetz von einer breiten Mehrheit getragen wird. Es müsste und sollte zunächst im Innen- und Rechtsausschuss diskutiert werden. Diese konstituieren sich i.d.R. erst nach Koalitionsverhandlungen. Es muss zudem nach Beschlussfassung dem Bundesrat zugeleitet werden. Ein derart wichtiges Gesetz wie das Bundeswahlgesetz sollte und darf nicht in wenigen Tagen durch den Bundestag gepeitscht werden.
Freundliche Grüße
Katja Kipping