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Frage von Johannes D. •

Frage an Katja Kipping von Johannes D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Liebe Kipping,

kürzlich ist erst wieder diese Frage aufgeworfen worden, warum Ihre Partei nicht wirklich von den Abstiegsängsten in der hiesigen Mittelschicht profitieren könne und dem Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich in unserem Land.

Es scheint, als würden Ihnen die meisten dieser Menschen doch nicht wirklich vertrauen. Dabei wirkt Ihre Eigenwerbung wie aus einem Guss und deckt doch alles an Befindlichkeiten ab.

Der Grund hierfür liegt für mich auf der Hand: es ist das "Gespenst" des Sozialimus. Sich weniger wirtschaftliche Existenzängste zu wünschen, heisst für den "Michel" bei Opel noch lange nicht, mit den Totalitarismen des vergangenen Ostblocks, Nordkorea oder dem aktuellen Venezuela tauschen zu wollen. Doch die ideologische Verbundenheit Ihrer Partei mit diesem Begriff "Sozialimus" zwingt Ihnen offenbar Bekenntnisse und Solidaritäten auf, wo Kritik und Abgrenzung angebrachter wäre. Und glaubwürdiger für das, für was Sie hier in Deutschland streiten.

Jeder Bürger bei uns kennt die Referenzenliste sozialistischer Systeme bis heute. Den Menschen hier bei uns ist ihre Lage noch lange nicht als so dramatisch bewusst, als dass Sie ihnen diese Modelle als bessere Alternative verkaufen könnten. Ihre Aufforderung für einen grundlegenden Politikwechsel wirkt da gerne irritierend.

Denn Menschen wünschen sich Sicherheit, Freiheit - die Teilhabe am guten Leben. Doch Ihr Spagat zwischen Ihren Forderungen in Deutschland und den ideologisch begründeten Schulterschlüssen hier und da ist gewaltig. Das vernebelt Ihr Gesicht und verhindert Vertrauen. Dabei braucht das Land eine starke, reale Sozialdemokratie.

Deshalb meine Frage an Sie: Sozial hin oder her - Sie aber sprechen von Sozialismus. Welche Vision haben Sie von diesem Land und seinen 80 Millionen Menschen? Wie weit würden Sie gehen?

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Antwort von
DIE LINKE

Lieber Herr Dilgmann,

vielen Dank für Ihre Mail. Sie haben Recht, meine Vision ist ein demokratischer Sozialismus.

In dieser Vision drückt sich ein zweifaches Trotz-alledem aus: Ich möchte den Sozialismus trotz einem behaupteten Ende der Geschichte und ich möchte ihn trotz der Verbrechen und Grausamkeiten, die in seinem Namen begangen worden. Diese verurteile ich zutiefst und da gibt es nichts schönzureden. Dennoch glaube ich, dass wir die Ideen des Sozialismus nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen sollten. Ähnlich wie es der kommunistische Schriftsteller Ronald M. Schernikau für den Kommunismus postulierte, halte ich es mit dem Sozialismus: „Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus.“

Ein ernstgemeinter Humanismus braucht seine Entsprechung in einem sozialen Universalismus, also die Sicherstellung der "sozialen Garantien des Lebens" (Rosa Luxemburg) für alle, ganz unabhängig vom bisherigen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Ein ernst gemeinter Humanismus braucht zudem eine Demokratie, die Freiheit und Gleichheit als Bedingungsverhältnis begreift. Es geht darum, das vom Neoliberalismus pervertierte Freiheitsversprechen gegen seine aktuelle Verfallsform zu wenden. Die kommende Demokratie ist daher kein fertiger Zustand, sondern ein offener Prozess. Ein Prozess, der die Fenster öffnen kann für einen freien, grünen, feministischen und lustvollen Sozialismus, einen Sozialismus 2.0. Die Chancen dazu sind auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes und der technologischen Entwicklungen so gut wie nie; die Gefahr sie zu verpassen aber auch.

Es geht dabei um eine völlig neue Weise des Produzierens, Lebens und Arbeitens. Kurzum um eine Revolution des Denkens, Fühlens und Handelns. Kern eines solchen Projektes ist immer noch die Umwälzung der herrschenden Produktions-, Reproduktions- und Eigentumsverhältnisse und die Verwandlung der Produktivkräfte und der technologischen Innovation in Mittel für die kollektive Selbstbestimmung: die Verfügung der Menschen über die Bedingungen, in denen sie leben und arbeiten. Es geht darum, die Demokratie aus ihrer Begrenzung auf das Parlament zu befreien, indem alle gesellschaftlichen Bereiche demokratisch durch die Menschen organisiert werden.

Insofern verstehen wir den neuen Sozialismus auch als eine kulturelle Revolution. Als ein völlig neues Wohlstandsmodell, in dem lustvolle Kooperation und Gestaltung, mehr selbstbestimmt verfügbare Zeit, die Entfaltung des Reichtums der Möglichkeiten und die Vielfalt des Arbeitens, Lebens und Liebens den privaten Warenkonsum als Sinnstiftung ersetzen.

Der Weg dahin kann kein einmaliger Sprung sein. Und er erfordert eine beständige, verbindende Arbeit. Noch verbinden sich die großen und kleinen Proteste, die Ansätze von Alternativen im Alltag, in denen Menschen im hier und jetzt anders arbeiten und leben, nicht zu einer "wirklichen Bewegung, die die den jetzigen Zustand aufhebt" - wie Marx und Engels das kommunistische Gespenst im Manifest nannten. Jedoch, das muss nicht so bleiben!

In unserem Manifest "Die kommende Demokratie: Sozialismus 2.0" haben mein Co-Vorsitzender Bernd Riexinger und ich Vorschläge für einen solchen demokratischen Sozialismus zusammengetragen. Ich lade Sie herzlich ein, diese hier nachzulesen.

Freundliche Grüße

Katja Kipping