Frage an Katja Kipping von Christian B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Frau Kipping
Bei den letzten drei Bundestagswahlen habe ich für Ihre Partei gestimmt und auch Heute noch stimme ich mit ihrer Partei in ca 75% aller Fragen überein.
Ich muss Ihnen leider mitteilen das ich bei der nächsten Bundestagswahl sehr wahrscheinlich nicht nicht mehr zur Wahlurne gehen werde.
Der Grund dafür ist, das die Linken in Fragen der Flüchtlingskrise sehr extreme und meines Erachtens dogmatische Auffassungen vertreten.
Ich bin gewiss kein Konservativer – sprich: ich bin nicht dafür das wir hier Niemanden mehr hereinlassen usw – , allerdings finde ich die Idee Alle Migranten und Flüchtlinge bedingungslos bei uns aufzunehmen auch nicht wirklich reizvoll und ich wäre eher für einen Mittelweg.
Was mich von Ihrer Partei abschrecken ließ ist die Vorurteilslosigkeit gegenüber Menschen aus teilweise doch sehr rückschrittlichen arabischen & afrikanischen Kulturen, die viele Linke an den Tag legen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin dafür das wir den Flüchtlingen helfen müssen und auch eine gewisse Anzahl der Flüchtlinge aufnehmen sollten.
Was ich allerdings nicht in Ordnung finde ist, diese Leute zu glorifizeiren einfach nur weil sie Ausländer sind und die Konsequenzen die diese Krise auf unsere Kultur & Gesellschaft haben herunterzuspielen oder einfach nicht zu beachten.
Ich beurteile Menschen nicht nach Hautfarbe, Religion, Geschlecht usw, sondern nach ihrem Charakter. Leider habe ich das Gefühl das viele Linke bezüglich des Themas Flüchtlinge eher ideologisch motiviert sind.
Was halten Sie von der Idee von der UN militärisch geschütze Zonen in Syrien und im Umfeld zu schaffen in denen die Flüchtlinge untergebracht werden können und Geld für Unterkunft, Nahrung und Bildung bereitgestellt wird?!
Danach könnte man jedes Jahr eine bestimme Anzahl von Ihnen nach Deutschland & die EU bringen, nachdem sie auf unsere Kultur vorbereitet und Kriminelle & Terroristen aussortiert wurden.
Respektvoll und mit lieben Grüßen
Christian Bahlmann
Sehr geehrter Herr Bahlmann,
vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihre Überlegungen. Ich beginne zunächst mit der letzten ganz konkreten Frage, was ich von der Unterbringung von Flüchtlingen unter Schutz der UN in der Region halte. Diese ist relativ einfach zu beantworten, und einige weitere Fragen, lassen sich daran gut anschließen.
Es gibt diese „Zonen“ wie Sie sie nennen. Nicht von der UN bewacht, denn in den Nachbarstaaten gibt es schließlich keinen Krieg wie in Syrien. Seit mehr als fünf Jahren harren Menschen in UNHC-Lagern wie Zaatari in Jordanien oder in Zahlé im Libanon aus. Allein in Zaatari leben fast 80.000 Menschen. Weitere Lager gibt es in der Türkei und in vielen anderen Staaten in der Region.
Zehntausende Kinder sind mittlerweile in solchen Lagern geboren und kennen nichts anderes als das Leben dort.
Die verstärkte Flucht von SyrerInnen nach Europa begann ja unter anderem, weil diese Lager chronisch unterfinanziert sind und das World Food Program der UN die Lebensmittelrationen massiv kürzen musste. Von daher - ja, solche Lager sind als kurzfristige Nothilfe wichtig. Aber sie sind keine dauerhafte Lösung bei langandauernden Konflikten wie dem syrischen Bürgerkrieg. Das Problem ist nicht, dass es zu wenig Lager gäbe, sondern dass Menschen dort auf Dauer keine Lebensperspektive haben oder ihnen, noch schlimmer, dort sogar Existenznotwendiges fehlt.
Die Aufnahmeprogramme aus diesen Lagern scheiterten daran, dass es kaum aufnahmebereite Länder gab.
Ich weiß z. B. nicht, was Sie damit meinen, wenn Sie schreiben, DIE LINKE würde Flüchtlinge glorifizieren. Ich sehe das nicht so. Wir treten dafür ein, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, die ihnen zustehenden Rechte in Anspruch nehmen können. Wir kämpfen dafür, dass sie sich sicher fühlen können und ihre Menschenwürde geachtet wird. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein, und weil es das leider nicht ist, wirkt es vielleicht auf Sie, als sei dies eine besondere positive Voreingenommenheit. Wir als LINKE finden, dass dies allen Menschen zusteht.
Unabhängig von den aktuellen flüchtlingspolitischen Fragen, denke ich sehr wohl, dass es auch unsere Aufgabe ist, daran zu arbeiten, dass wir von einer politischen und ökonomischen Ordnung wegkommen, die zu einem so immensen Gefälle an Wohlstand und Lebenschancen führt, dass es Stacheldraht und Zäune braucht, um dieses Ordnung aufrecht zu erhalten. Das klingt vielleicht utopisch. Andererseits, ein Europa ohne Grenzen im Inneren war auch mal eine ferne Utopie, die seit einigen Jahrzehnten mit gewissen Abstrichen Wirklichkeit ist. Durch die Art und Weise, wie wir mit den Herausforderungen von Flucht und Migration derzeit umgehen, verspielen wir selbst diesen positiven Ansatzpunkt, anstatt an diesem Projekt weiterzuarbeiten.
Einen Widerspruch in Ihrer Mail kann ich nicht auflösen. Einerseits sagen Sie, dass Sie es nicht richtig finden, Menschen nicht nach Religion, Geschlecht etc. zu beurteilen, auf der anderen Seite finden Sie, DIE LINKE sollte mehr Vorurteile haben, und bezeichnen einen Kontinent mit 1,1 Milliarden Bewohnern als „rückschrittlich“? Weiter gefragt: Wo ziehen Sie die Trennlinie zwischen Kultur, politischem System und ökonomischen Umständen? Glauben Sie, dass das, was Sie als „Kultur“ bezeichnen, unveränderlich ist und einen Menschen vorherbestimmt? Bei letzterem kann ich klar sagen, dass selbstverständlich Menschen aus anderen Gesellschaften andere Überlegungen und Herangehensweisen gewohnt sind. Dass ich manche Traditionen und Haltungen nicht nachvollziehen kann. (Das geht mir aber auch in meiner Heimatstadt gelegentlich so.) Ich traue prinzipiell jedem Menschen Reflexion und die Fähigkeit zur Auseinandersetzung zu und das, was ich bei vielen erlebe, die erst vor kurzem nach Deutschland gekommen sind, bestätigt dies. Nicht jeder, der aus einer konservativen Gesellschaft kommt, ist konservativ. Nicht jeder, der in einer Diktatur aufgewachsen ist, findet deswegen Diktaturen gut. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Das heißt nicht, dass es in Einwanderungsgesellschaften keine Konflikte gibt. Mich interessieren aber die Diskussionen darüber, wie diese gelöst oder demokratisch ausgetragen werden können. Das so gern verwendete Label „Kultur“ ist in der Regel vor allem Ausrede für die Faulheit, Verhältnisse zu analysieren. Es schafft sofort eine große, falsche Klarheit.
Mit ebenso viel Respekt und gleichermaßen lieben Grüßen
Katja Kipping