Frage an Katja Kipping von Joachim P. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Liebe Katja Kipping,
Sie streben wie die CDU/CSU eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei an. -
1989 hat Helmut Kohl zuerst von den privilegierten Strukturen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gesprochen, gemeint hatte Helmut Kohl föderative. Helmut Kohl sah sich dann historisch in die Lage versetzt, die blockübergreifenden, friedenstrebenden Bürgerbewegungen in Ost und West, getragen von Perestroika, Glasnost, gorbi et orbi , die klein-europäische Lösung, die Deutsche Einheit gegen beachtliche Widerstände ( Mitterand/ Thatcher u.a. ) durchzusetzen. Helmut Kohl tat dies nicht zuerst als Deutscher sondern vor allem als Europäer, weil eine implodierende, hochgerüstete DDR ohne Beitrittsperspektive zur EU oder Bundesrepublik Gefahr lief, zum Tummelplatz legal und illegal vagabundierenden Kapitals von ausländischen Investoren und Regierungen zu werden, mit dem Ergebnis, mitten im Herzen von Europa z. B. in Berlin ein Eldorado von herbeigelaufenen, gedungenen Söldnertruppen zu inszenieren. Wobei zu diesem Zeitpunkt die Gefahr nicht in der Existenz der Roten Armee lag sondern in der Gefahr ihrer Auflösung.
FRAGE: Geht es Ihnen im Grunde viel zu langsam mit der Integration der Türkei in die EU? Habe ich Ihren Begriff von der privilegierten Partnerschaft der EU mit der hochgerüsteten Türkei völlig mißverstanden? Meinen Sie föderative Strukturen zwischen der Türkei und der EU?, wie einst Helmut Kohl zwischen der Bundesrepublik und der DDR, angesichts der beschriebenen Gefahren, durch verspätetes Handeln einen Brandherd zu entfachen, diesmal einen erweiterten und ungleich größeren im Südosten Europas? Die Situationen in Bosnien, Kosovo, Mazedonien erzwingen zügigere Vereinbarungen der EU mit der Türkei? Meinen Sie diese Gefahr bei 15 jährigen Beitrittsverhandlungen? Danke!
Herzlich Joachim Petrick
Sehr geehrter Herr Petrick,
die Linkspartei.PDS hat vor dem Hintergrund einer Gleichbehandlung der EU-Beitrittskandidaten unmissverständlich erklärt, dass sie die Aufnahme von Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei befürwortet, wenn diese die Kopenhagener Kriterien erfüllt und vor allem die Menschenrechtssituation verbessert. Dabei hat es in der Türkei auf der Ebene der Gesetzgebung erhebliche Fortschritte gegeben. Allerdings gibt es auf der Umsetzungsebene noch massive Probleme. Jetzt der Türkei die EU-Beitrittsperspektive zu nehmen, hätte vermutlich zur Folge, dass die verhalten positive Entwicklung gestoppt wird - zu Lasten vor allem von politisch Verfolgten, von Minderheiten, Frauen und Inhaftierten.
Die PDS wird sich in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei für das folgende politische Konzept stark machen, welches eine Aufnahme der Türkei ermöglichen soll:
1. Eine Mitgliedschaft der Türkei kann eine Chance für Europa und die angrenzenden Regionen des Nahen und des Mittleren Ostens sowie Nordafrika sein. Allerdings lehnen wir das geostrategische Kalkül ab, mit dem die Bundesregierung für eine Mitgliedschaft wirbt. Die Bundesregierung weist der Türkei die Rolle eines Front-Vorpostens Europas in der Region im Rahmen der Bekämpfung des islamischen Terrorismus zu. Vielmehr sollte Voraussetzung für eine Aufnahme der Türkei sein, dass die Türkei eine konsequente Friedenspolitik in der Region betreibt, dass sie sich aktiv für eine Politik der Friedensgewinnung und Friedenssicherung einsetzt. Als Stabilitätsfaktor in der Region sollte die Türkei im Rahmen der Europäischen Union für den sozialpolitischen Fortschritt des Nahen und Mittleren Ostens beitragen. Sie kann das nur, wenn von ihr selbst Friedenspolitik ausgeht. Hierbei ist das militärstrategische Abkommen zwischen der Türkei und Israel, das sich insbesondere gegen Syrien wendet, ein ernsthaftes Problem. Außerdem ist die Türkei gemäß der Charta der Vereinten Nationen dazu verpflichtet, alles daran zu setzen, ungelöste Grenzstreitigkeiten und damit zusammenhängende Fragen friedlich zu lösen. Das gleiche gilt für die ungelöste Wasserproblematik, die sie mit Syrien und Irak auf Grund der Errichtung vieler Stauseen an Euphrat und Tigris hat. Von größter Dringlichkeit ist eine Einigung im Zypernkonflikt, die dem Mehrheitswillen der zypriotischen Bevölkerung nach einer Wiedervereinigung der Insel Rechnung trägt.
2. Was die türkische Innenpolitik betrifft, so fordert die PDS eine konsequente Einhaltung der Kopenhagener Kriterien als Beitrittsvoraussetzung. Von der EU-Kommission und der Bundesregierung fordern wir, dass im Verhandlungsprozess keine "Weichspülung" dieser Kriterien erfolgt, wie bereits von vielen NGOs befürchtet wird. Immer noch ist es so, dass die kurdische Bevölkerung erheblichen Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt ist. Bis auf wenige Fälle darf kurdisch weiterhin nicht gesendet oder in Schulen unterrichtet werden. Kurdische Politiker und Politikerinnen sind weiterhin großen Druck ausgesetzt, wie das Verbot der pro-kurdischen Partei HADEP sowie das Verbotsverfahren gegen die Nachfolgerpartei DEHAP zeigt. Dennoch betrachtet die PDS die bisher in der Türkei verabschiedeten Gesetzespakete als wichtige Schritte hin zu einer Annäherung an die EU-Standards. Entscheidend für die Reformen sind jedoch nicht die Änderungen auf dem Papier, sondern weiterhin die Realität. Hier gibt es noch größten Veränderungsbedarf. Solange es hier weiterhin Mängel gibt, können keine erfolgreichen Verhandlungen abgeschlossen werden.
3. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik bedarf es seitens der EU einer großen solidarischen Anstrengung zugunsten der Türkei, um der Türkei eine Vollmitgliedschaft zu ermöglichen. Brüssel fordert von der Türkei den gesamten gemeinschaftlichen Besitzstand der Union (Acquis Communautaire) zu übernehmen. Es ist anzunehmen, dass die Türkei diese aus eigener Kraft gar nicht in der Lage ist zu finanzieren. Das wirft viele Probleme auf, die man nur gemeinschaftlich bewältigen kann. Die Strukturanpassungen, welche die Türkei bewältigen muss, werden viele Millionen ohne Arbeit lassen. Schätzungsweise sind 50 Prozent der Bauern davon bedroht, ihre Höfe aufgeben zu müssen. Die Modernisierung der Industrie wird zur Schließung vieler Industrieanlagen führen. Ungelöst ist damit das Problem der enormen Reservearmee an Arbeitskräfte, die zu entstehen droht und die kaum auf die Schnelle durch ein internes Wirtschaftwachstum wieder in Lohn und Brot gebracht werden kann, meinen viele warnende Kenner des Landes. All dies könnte das Land wieder rasch destabilisieren. Weiterer Abbau der eh nur rudimentär vorhandenen Sozialstandards könnte die Position der radikalen islamischen Kräfte innerhalb der Türkei stärken. Nach einer Berechnung der Brüsselers Institutes "Friends of Europe" hat die Türkei im Falle einer Mitgliedschaft über viele Jahre hinweg einen Jahresbedarf von 18 Milliarden Euro, um die Strukturanpassungen vornehmen zu können und zugleich die innergesellschaftlichen Verhältnisse stabil zu halten.
4. Wer nicht ernsthaft über den Finanzbedarf der Türkei zur Umstrukturierung ihrer Wirtschaft und Verwaltung spricht, rechnet entweder gar nicht ernsthaft damit, die Türkei im Kreis der EU aufzunehmen, oder ist nicht bereit, die Türkei gleich wie alle anderen Mitglieder zu behandeln, und gibt damit das Prinzip des einheitlichen Europas zugunsten eines losen Wirtschaftsverbundes auf. Die PDS macht auf die Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Integration aufmerksam: Alle beteiligten Länder müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Aufnahme der Türkei eine Selbstveränderung der Europäischen Union bedeutet. Das ist notwendig, um nicht die erreichten Fortschritte der EU-Integration aufs Spiel zu setzen und sie in einen losen Binnenmarkt- oder Wirtschaftsverbund zurück zu entwickeln. Ein solches Konzept eines losen Wirtschaftsverbundes ist das von der US-Strategie favorisierte, um Europa zu schwächen. Die PDS ist auch nicht für ein Europa verschiedener Kategorien von Mitgliedsstaaten oder gar von Mitgliedsstaaten zweiter oder dritter Klasse.
5. Mit einem Ja zu einem Beitritt der Türkei auf gleichberechtigter Basis lehnen wir auch die fremdenfeindliche Kampagne der CDU und FDP ab. Für uns gehört die Türkei ebenso zur europäischen Kultur und Tradition wie die Englands oder Frankreichs. Die EU begründet sich auf universelle Werte, die auf die Aufklärung zurückzuführen sind. Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Grundfreiheiten, Rechtstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit für all ihre Mitglieder sind die Grundlagen des EU-Vertrages und darüber hinaus des Gedankens eines Vereinigten Europas. Sollte die Türkei jedoch während der Verhandlungen gegen Menschenrechte oder demokratische Prinzipien verstoßen oder einer friedenspolitischen Perspektive - Regelungen ihrer Grenzstreitigkeiten und des Wasserproblems - nicht genügend nachkommen oder durch eine militärische Aktion, z.B. im Irak, zur Verschärfung der Lage beitragen, müssen von Seiten der EU die Verhandlungen ausgesetzt oder gar abgebrochen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Katja Kipping