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Karoline Jobst
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Marco G. •

Sehen Sie die Entstehung einer „neuen ostdeutschen Identität“?

Dirk Oschmann‘s Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ wurde rasch zum Bestseller und traf offenbar einen Aspekt, den weit mehr Menschen beschäftigt als offiziell eingeräumt wird. Insbesondere der Ukrainekrieg bzw. die Reaktion der deutschen Politik darauf, beschleunigte den Prozess der Bildung einer neuen ostdeutschen Identität. Wie positionieren Sie sich zum Thema ostdeutsche Identität? Gibt es so etwas überhaupt? Falls doch, wäre etwas mehr Autonomie für die ostdeutschen Bundesländer ein politisches und wirtschaftliches Ziel? Letztlich um den Mehrheitsverhältnissen in der ostdeutschen Bevölkerung gerecht zu werden und den spezifischen gesellschaftlichen Interessen Gehör zu verschaffen? Bildung, Gesundheitsfürsorge, Gleichberechtigung, Militarisierung, Verfassung etc. sind Themenfelder, auf denen beim Anschluss der neuen Bundesländer entscheidende Fehler gemacht wurden. Bestätigen Sie einen solchen Prozess? Falls ja, wie wollen Sie darauf reagieren?

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr G.,

insbesondere meine Familiengeschichte, Gespräche mit Verwandten, das eigene Erleben von Stigmata gegenüber Ostdeutschen und zuletzt das Buch "Ostbewusstsein" von Valeria Schönian, haben dazu geführt, dass ich mich selbst als ostdeutsch identifiziere. Ich glaube nicht, dass diese Identität "neu" ist, sondern in den letzten Jahren gesamtgesellschaftlich (u.a. auch durch mehr Literatur) präsenter wird und sich auch immer mehr Nachwendekinder (inklusive mir) mit ihrer ostdeutschen Herkunft befassen und ein Bewusstsein dafür entwickeln. Ich selbst bin der Überzeugung, dass wir ein Deutlich-Machen von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen West- und Ostdeutschland brauchen, damit wir ihnen entgegenwirken können. Eine gemeinsame ostdeutsche Identität kann helfen, Menschen zusammen zu bringen und auf Probleme (Lohngefälle, Infrastrukturabbau, fehlende Mitbestimmung uvm.) aufmerksam zu machen. Das Reflektieren der eigenen Herkunft spielt dabei eine wichtige Rolle, sollte aber keinesfalls zur Abwertung Anderer führen. 

Ich stimme zu, dass in den 1990ern viele Fehler gemacht wurden und insbesondere das westdeutsche Wirtschaftssystem dem ostdeutschen übergestülpt wurde, anstatt zwei Staaten gleichberechtigt zu vereinigen. Dabei wurden im Zuge der Treuhand-Abwicklung von Betrieben und Infrastruktur große Fehler gemacht und vor allem die Menschen in Ostdeutschland sowohl politisch als auch wirtschaftlich nicht annähernd ausreichend beteiligt. Die Ergebnisse sind bis heute spürbar und sichtbar, vor allem im ländlichen Raum. Es wurde zudem verpasst, gute Ideen aus der DDR weiterzuführen bzw. Ostdeutschland das Weiterführen von guten Konzepten zu ermöglichen (z.B. langes gemeinsames Lernen in der Schule, bessere Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben, Produkte die lange reparierbar sind, ...).

Aktuell beobachte ich, wie viele dieser Ideen politisch erneut aufkommen und als vermeintlich "neue" Ziele formuliert werden. Hier gilt es, die Erfahrungswerte ehemaliger DDR-Bürger*innen stärker einzubeziehen und Ideen bzw. Formulierungen nicht grundsätzlich abzulehnen, weil es sie bereits in der DDR gab. Ich wünsche mir grundsätzlich mehr Autonomie und Mitbestimmung für Menschen vor Ort, egal ob in Ost- oder Westdeutschland. Das bedeutet, dass Fragen der Grundversorgung, Bildung, Gesundheit etc. möglichst lokal angegangen und diskutiert werden sollten. Ich sehe eine große Stärke in räumlicher Nähe und überschaubaren Gruppengrößen, um Probleme gemeinsam anzupacken. Als Landtagsabgeordnete möchte ich dies unterstützen, in dem beispielsweise mehr Beteiligungsmöglichkeiten in den Kommunen geschaffen, bürokratische Hürden abgebaut und finanzielle Mittel für lokale Entwicklungen bereitgestellt werden. Auch das gemeinschaftliche Organisieren von Wirtschaft und Betrieben, die in der Hand von vielen statt wenigen Menschen liegen, halte ich für unabdingbar für mehr soziale Gerechtigkeit. Rekommunalisierung oder die Vergesellschaftung von Betrieben der Grundversorgung (allen voran Krankenhäusern!) kann hier ein guter erster Schritt sein.

Ich hoffe, ich konnte damit Ihre Fragen beantworten. Ansonsten freue ich mich über eine Mail, um das Thema bei Bedarf weiter zu vertiefen. 

 

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