Frage an Karl Schiewerling von Manfred S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schiewerling,
das Buch von Herrn Sarrazin war schon vor seinem Erscheinen ein Bestseller, und das aufgrund auszugsweiser Vorabdrucke in der Presse.
Ich habe das Buch bestellt, lt. Buchhandlung wird die Auslieferung wegen der großen Nachfrage erst in einigen Tagen oder sogar Wochen erfolgen.
Es ist zweifelsfrei festzustellen, daß das Buch von Herrn Sarrazin die Aufmerksamkeit weiter Teile der Bevölkerung geweckt hat und eine gewisse Zustimmung - wenn auch nicht in vollem Umfang - findet.
Herr Sarrazin wird von vielen Politikern, v.a. der Partei, deren Mitglied er ist, geächtet und disqualifiziert. Weiterhin droht ihm auf Betreiben von Politikern der Rauswurf aus seiner Position bei der Deutschen Bundesbank.
Wird hier das Recht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt?
Ich habe den Eindruck, daß sich eine Vielzahl von Politikern in unserem Lande weit von ihren Wählern entfernt hat und Empfindungen bzw. Meinungen nicht zur Kenntnis nehmen will.
Wie ist Ihre Meinung?
Ergänzend weise ich auf einen in den Westfälischen Nachrichten vom 31.08.10 erschienenen Artikel hin, nach dem Herr Gaddafi, Oberhaupt eines islamischen Staates, geäußert hat, früher oder später werde der Islam die Religion ganz Europas.
Mit freundlichen Grüßen
Manfred Seeger
Sehr geehrter Herr Seeger,
vielen Dank für Ihre Frage vom 2. September.
Zweifelsohne wurde durch das Buch von Herrn Sarrazin in den vergangenen Wochen eine kontroverse Debatte über Integration ausgelöst. Ich halte die Wortwahl von Herrn Sarrazin für unerträglich, insbesondere der Hinweis auf die genetischen Anlagen. Sarrazins Thesen sind nicht mutig, sondern polarisieren und zeigen wenig Lösungsansätze. Ebenso wie andere Personengruppen nicht über einen Kamm geschoren werden sollten, gilt das auch für unsere ausländischen Mitbürger.
Der Kern seines Anliegens und die grundsätzliche Diskussion über Integrationspolitik, die Herr Sarrazin losgetreten hat, ist aber berechtigt. Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert hat es treffend auf den Punkt gebracht: "Auch wenn die Tonlage seiner Argumentation ärgerlich ist, ersetzt eine wohlfeile Empörung nicht die ehrliche Auseinandersetzung mit offensichtlichen Fehlentwicklungen bei Migration und Integration." Es gibt Versäumnisse, die aufgearbeitet werden müssen. Bestehende und wachsende Parallelgesellschaften und offensichtliche Integrationsverweigerung einzelner Bevölkerungsgruppen können nicht wegdiskutiert werden. Integration verlangt faire Chancen, aber auch klare Regeln. Wer die Werte unserer Gesellschaft und Deutschland als seine Heimat annehmen will, wird seine Chance in unserem Land bekommen und ist uns herzlich willkommen. Ein erfolgreicher Integrationsprozess enthält für alle die Chance, kulturelle und soziale Vielfalt konstruktiv zu nutzen.
Die CDU- geführte Landesregierung von Nordrhein- Westfalen war es 2005, die mit Armin Laschet bundesweit den ersten Integrationsminister gestellt hat. Des Weiteren wurde im Jahr 2005 unter Bundeskanzlerin Angela Merkel das Staatsministerium für Integration im Kanzleramt eingerichtet und mit Maria Böhmer die erste Integrationsministerin von der Union gestellt. Es ist also keineswegs so, dass die CDU im Bund und Land erst durch Herrn Sarrazin auf die Probleme im Bereich der Integration hingewiesen wurde.
Meines Erachtens ist dieses Thema auch nicht „tabuisiert“, allerdings hilft es auch nichts, die Missstände zu beklagen, jedoch nicht zu handeln. Herr Sarrazin selber war im Übrigen von 2002- 2009 Berliner Finanzsenator und somit Mitglied der Berliner Landesregierung. Er hatte demnach rund sieben Jahre Zeit als Politiker der ersten Reihe die nun von ihm beklagten Missstände zu beheben oder mindestens daran mitzuwirken, dass Maßnahmen eingeleitet werden, die Abhilfe schaffen. In seiner Regierungszeit ist im Ergebnis nichts passiert. Die Haushaltsmittel für Integrationsfördernde Programme wurden unter seiner Führung sogar gekürzt. Sich nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsamt nun zu beklagen, ist an Zynismus kaum zu überbieten.
Herr Sarrazin hat sich auch nicht dadurch diskreditiert, dass er das Thema der Integration angesprochen hat, sondern durch seine absurden Gen- Thesen. Diese Differenzierung zwischen der Integrationsdebatte und den Thesen über genetische Anlagen wird in den Medien leider nicht immer deutlich. Ich bin der Meinung, dass die Grenze durch solche Äußerungen eindeutig überschritten ist.
Die freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut, mit dem man aber auch verantwortungsvoll umgehen muss. Sie hat zum Beispiel dann ihre Grenzen, wenn Äußerungen das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die Ehre des Adressaten verletzen. Ich bin daher nicht der Auffassung, dass die freie Meinungsäußerung dadurch beschränkt wird, dass eugenetische Thesen aufs Schärfste zurückgewiesen werden, insbesondere wenn sie von einem Menschen getätigt werden, der ein hochrangiges öffentliches Amt bekleidet.
Letztlich möchte ich sagen, dass eine konstruktiv- kritische Debatte über die Erfolge und Misserfolge bei der Integrationspolitik notwendig ist, die ohne Tabus geführt werden muss. Die Debatte muss aber sachlich und ergebnisorientiert geführt werden und nicht nur das Ziel möglichst hoher Verkaufszahlen mit Hilfe von Populismus verfolgen.
Mit freundlichen Grüßen
Karl Schiewerling