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Julia Verlinden
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Frage von Michael L. •

Frage an Julia Verlinden von Michael L. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrte Frau Dr Verlinden,

Sie haben am 19.8. für die Gewährung eines Kreditpaketes an Griechenland gestimmt, offenbar auch in Zusammenhang mit dem Euro. Am 31.8. las ich über T-Online die Nachricht, dass die französische Regierung eine "Neugründung Europas" wolle, der "Status quo führt in die Selbstzerstörung".

Meine Frage: ist aus Europa zwischenzeitlich nicht eine reine Worthülse geworden, wenn man sich zwar auf die Rettung griechischer Banken, nicht aber auf die europaweite Verteilung von Flüchtlingen einigen kann, dass europ. Parlament keine eigenen Gesetzesentwürfe einbringen darf, in der Vergangenheit Grexit und/oder das Ende des Euros (zuletzt Wagenknecht) gefordert wurden oder was soll Ihrer Meinung vor dem Hintergrund von Nachrichten wie eingangs zitiert als Europa sichtbar sein?

Mit freundlichem Gruß
Langer

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Langer,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 1. September. Mich erreichen derzeit viele Anfragen, weshalb die einzelne Beantwortung dadurch etwas länger dauert – dafür möchte ich mich entschuldigen.
Sie fragen mich, ob Europa zu einer reinen Worthülse geworden ist. Ich bin der Meinung, dass unser Europa eine politische Erfolgsgeschichte ist, denn es hat uns über 60 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. Jetzt müssen wir uns dafür einsetzen, diese Erfolgsgeschichte weiterzuführen. In letzter Zeit gab und gibt es große Herausforderungen für die europäische Gemeinschaft. Hierzu zählen, wie von Ihnen beschrieben, die Griechenlandkrise und der Umgang mit den Flüchtenden.
Zur Griechenlandkrise: Wir Grünen wollen, dass Griechenland Mitglied unserer Währungsgemeinschaft bleibt. Ein Verbleib Griechenlands im Euro-Raum ist politisch und ökonomisch die stabilste Lösung. Die Zustimmung zum dritten Hilfspaket war daher notwendig, um einen Grexit zu verhindern. Das heißt nicht, dass wir mit der Form des dritten Hilfspakets einverstanden sind. Mit ihm werden auch die Fehler der vorangegangenen Programme wiederholt. Die einseitige Fokussierung auf die Erwirtschaftung eines hohen Primärüberschusses im griechischen Staatshaushalt war angesichts des Investitionsstaus und der sozialen Situation verfehlt, führte zu einem weiteren Einbruch der Wirtschaftsleistung und erhöhte damit die Schuldenquote.
Die ökonomische Krise Griechenlands und das Thema Flüchtlinge haben tatsächlich auch etwas miteinander zu tun, denn die Krise trifft die Schwächsten zuerst, so auch die Flüchtlinge. Seit Jahresbeginn haben hunderttausende Flüchtlinge die griechischen Küsten erreicht. Die meisten von ihnen sind aus Syrien, Irak und Afghanistan geflohen. Auf den griechischen Inseln hat sich die Zahl der Ankünfte im Vergleich zum Vorjahr schon jetzt verfünffacht.

Zusätzliche und neue Herausforderungen wie die Flüchtlingshilfe können nicht mit immer weniger Geld gemeistert werden. Erforderlich ist, jenseits des jetzt vereinbarten Programms, eine Soforthilfe in angemessener Höhe zur Bewältigung der humanitären Herausforderungen. Die Bundesregierung muss sich auf EU-Ebene mit Nachdruck für eine effektive Unterstützung Griechenlands bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und in den laufenden Haushaltsverhandlungen des EU-Haushalts für eine deutliche Aufstockung der entsprechenden Mittel einsetzen. Zudem muss sie sich auch auf EU-Ebene im Rahmen des Notfallprogramms dafür einsetzen, mehr Flüchtlinge umzusiedeln. Im Gegenzug sollte sie bei der griechischen Regierung darauf hinwirken, dass diese ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen beim Umgang mit Flüchtlingen einhält, d.h. insbesondere auf lokaler Ebene die Erstaufnahme menschenwürdig sicher zu stellen.

Daran ist zu erkennen: Wir brauchen eine Stärkung Europas, keine Schwächung. Wir können Staaten wie Griechenland nicht mit ihren Problemen alleine lassen. Doch zu sehen ist auch, dass die EU dringend weitergehende Reformen benötigt. Sie sprechen davon, dass das Europaparlament keine eigenen Gesetzesentwürfe einbringen darf. Genau bei dem Thema sage ich: Die EU braucht mehr europäische Kompetenzen und vor allem mehr europäische Demokratie. Bei der Griechenlandkrise wurde gut sichtbar, wie das akute Krisenmanagement von den Hinterzimmer-Deals der Regierungschefs geprägt war und ist, während das EU-Parlament als Herzstück der europäischen Demokratie keine Rolle spielte. Gleichzeitig haben die EU-Bürgerinnen und -Bürger ein in diesem Ausmaß noch nie dagewesenes rhetorisches Aufrüsten in den nationalen Europa-Debatten erlebt, genauso wie jetzt wieder beim Umgang mit den Flüchtenden.

Europa ist kein Kampf von Nationen. Europa muss mehr als ein bloßes Zweckbündnis und ein gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum sein. Europa muss eine Wertegemeinschaft sein. Und die Vertiefung der EU und ihrer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion ist vor allem auch ein Demokratie- und Integrationsprojekt. Die Krise muss endlich auch durch eine Strategie der demokratischen Integration angegangen werden. Und dafür brauchen wir in der EU mehr europäische Kompetenzen und mehr europäische Demokratie. Damit Europa, wie von Ihnen befürchtet, nicht zur „reinen Worthülse“ verkommt.

Herzliche Grüße

Julia Verlinden

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