Frage an Johannes Kahrs von Michael G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kahrs,
Über die Presse wurde bekannt, dass die Rechte für die Rede der Abgeordneten näher an die Fraktion gebunden werden solle. Als Ursache wird Herrn Lammerts Entscheidung vermutet, Kritikern der Euro-Rettung das Wort erteilt zu haben. Exemplarisch möchte ich den Artikel "Fraktionen planen Maulkorb für Abgeordnete" der Sueddeutschen Zeitung nennen ( http://www.sueddeutsche.de/politik/rederecht-im-bundestag-fraktionen-planen-maulkorb-fuer-abgeordnete-1.1332338 ).
Mir ist durchaus bewusst, dass wesentliche Verhandlungs- und Entscheidungmechanismen in Parteiengremien und den Bundestagsausschüssen gefällt werden. Auch weiß ich um die Bedeutung der Fraktionsdisziplin für eine stabile Regierung, die auf der Parlamentsmehrheit beruht. Dennoch denke ich, dass Abgeordneten weiterhin die Möglichkeit eingeräumt werden muss, ihrem Gewissen nach wahrgenommene Fehlentwicklungen auf der parlmentarischen Plattform zu artikulieren. Das von der CDU/CSU, FDP und SPD angekündigte Vorhaben, die Geschäftsordnung des Bundestages entsprechend zu ändern, halte ich nicht mit dem Grundsatz der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu vereinen. Welche Position beziehen Sie diesbezüglich?
Sehr geehrter Herr Geyer,
vielen Dank für Ihre Frage.
Hintergrund des angedachten - und jetzt wieder einkassierten - Änderungsvorschlages ist folgender: bei der Debatte zum ESM erhielten die Abweichler aus den Reihen von CDU und FDP gesondertes Rederecht außerhalb der ihnen laut Geschäftsordnung zustehenden Fraktionsredezeit. Die Abweichler hatten in dieser Debatte genauso viel Redezeit wie die gesamte Fraktion von Bündnis 90 / Grüne.
Selbstverständlich ist auch die SPD-Bundestagsfraktion dafür, abweichende Meinungen zuzulassen. Bei den Debatten zur Agenda 2010 hat die SPD z.B. Ottmar Schreiner stets Redezeit eingeräumt, um seine von der Mehrheit der Fraktion abweichende Meinung darzulegen. Dies fand allerdings ausschließlich im Rahmen der vorher vereinbarten Gesamtredezeit der Fraktion statt. Bei der ESM-Debatte erhielten CDU/CSU und FDP also dadurch, daß ihre Abweichler "gesondert" sprechen durften, einen unfairen Vorteil. Union und FDP hätten ihre Abweichler, so, wie das in den anderen Fraktionen üblich ist und auch immer war, innerhalb der ihnen zugeteilten Redezeit sprechen lassen müssen. Im Grunde wurden gerade dadurch, daß die Gesamtredezeit der Mehrheitsmeinung vorbehalten war, die abweichenden Meinungen marginalisiert.
Es ging also bei dem Vorschlag mitnichten darum, "unbequeme" Meinungen nicht zuzulassen, sondern vielmehr darum, die geübte, faire Praxis der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufrechtzuerhalten.
Mit freundlichen Grüßen,
Johannes Kahrs