Frage an Jobst-Egbert von Frankenberg und Proschlitz von Gottfried B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
G o t t f r i e d B r a n d s t ä t e r
Hamburg den 29 Oktober 2006
An Herrn Egbert v. Frankenberg
Sehr geehrter Herr von Frankenberg
Wie kürzlich in der Presse zu lesen war, werden die Schulleiter zur Namensnennung von Kindern verpflichtet, die nicht bei den deutschen Behörden gemeldet sind, aber dennoch die Schule besuchen. Das sind Kinder von Eltern, die sich illegal in der Stadt aufhalten, deren Zahl auf mehrere Tausend allein in Hamburg geschätzt wird. Es betrifft auch Kinder, die in Deutschland geboren sind, deren Geburt jedoch aus Angst vor möglicher Abschiebung standesamtlich nicht registriert worden ist.
Die geforderte Meldepflicht wird, wie zu befürchten ist, zur Folge haben, daß diese Kinder nicht mehr zum Schulunterricht erscheinen werden.
Nach dem Sozialpakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Art. 13, hat jedes Kind ein Recht auf Bildung. Da die Bundesrepublik sich zur Umsetzung dieser Rechte verpflichtet hat, sind die Länder als Träger der Kulturhoheit hier in der Pflicht.
Das gleiche Recht auf Bildung schreibt die Kinderechtskonvention in Art 28 vor.
Die neuerliche Meldepflicht stürzt viele Schulleiter in Gewissenskonflikte mit ihrem Berufsethos und wird dazu führen, daß diese Kinder in die Isolation abgedrängt werden.
Das bedeutet,
1)daß der Senat hier die allgemeinen Menschenrechte verletzt,
2) daß der Senat dazu Anlaß gibt, daß viele ungebildete Kinder und Familien herangezogen werden, die später zu einer Gefahr für sich selbst und für den Staat werden, weil sie nicht mehr integriert werden können.
Es ist daher zu befürchten, daß mit der Nichtbeschulung illegaler Kinder der Grund zu Verzweiflungstaten oder kriminellen Handlungen gelegt werde. Beispiele aus Paris zeigen, was aus inkriminierten und nicht integrierten Familien werden kann.
Ich hoffe, daß Sie sich bei Ihrer Antwort nicht darauf zurückziehen, daß der Senat sehr wohl die Meldung aller Kinder verlangen dürfe. Das steht außer Frage. Es geht mir um die politische Wirkung der o. g. Maßnahme.
Was werden Sie tun, daß die gefährdeten Kinder einen Status erhalten, der ihnen ermöglicht, angstfrei Kindergärten und Schulen zu besuchen, und menschenwürdig zu leben?
Zu Ihrer Tätigkeit im Ausschuß Familie.Kinder und Jugend frage ich, wie Sie sich zur Forderung stellen, die Zahl der Mitarbeiter in der Kinder und Jugendbildung zu erhöhen, um weitere Fälle wie Jessika zu verhindern.
Ich meine, daß die Erhöhung der Zahl der Mitarbeiter in der Kinder und Jugendbildung unbedingt notwendig ist, damit eine intensive Betreuung der Kinder bereits im Kleinstkinderalter gewährleistet ist. So wird erreicht werden, daß Verweiflungstaten verhindert werden.
Ich hoffe, daß Sie sich mit Ihrer Antwort nicht auf fehlende Finanzen zurückziehen, solange noch Geld für Prestigeprojekte vorhanden ist.
Mit freundlichem Gruß
Gottfried Brandstäter
Sehr geehrter Herr Brandstäter,
zunächst vielen Dank für Ihre Fragen und das damit verbundene Engagement.
Zu Ihrem ersten Fragenkomplex von Kindern mit ungesichertem Status kann ich Ihre Befürchtungen zerstreuen. Sie beziehen sich auf eine Pressemeldung, nach der Schulleiterinnen und Schulleiter verpflichtet werden sollen, diejenigen unter ihren Schülerinnen und Schülern, die nicht in Deutschland gemeldet sind, bei ihrer Behörde anzugeben. Das ist so nicht der Fall. Vielmehr gilt seit langen Jahren für alle Beamte eine aus dem Ausländerecht erwachsene Verpflichtung, Verdachtsmomente zu illegal sich in Deutschland aufhaltenden Personen zu melden. Das Schülerregister, das eingerichtet wurde, um Schicksale, wie das der verstorbenen Jessica, in Zukunft zu verhindern, schafft hier keine neue Rechtslage. Es sieht lediglich eine Abfrage der Staatsangehörigkeit vor, nicht aber – wie Sie befürchten – Informationen zum ausländerrechtlichen Status oder zur Erfüllung der Meldepflicht. Damit geht das Schülerregister in diesem Punkt nicht über die bereits bestehende Meldepflicht hinaus. Wie Sie wissen, war es auch nie die Intention, das Schülerregister gleichsam zum „Aufspüren“ illegaler Schüler zu verwenden. Es liegt in der Natur der Sache, dass über die genaue Anzahl der schulpflichtigen Kinder von sich in Hamburg illegal aufhaltenden Eltern nichts bekannt ist. Jede Angabe einer Zahl Illegaler in Hamburg ist daher reine Spekulation. Das Recht auf Schulbildung werden diese Kinder auch weiterhin ausüben dürfen und können – ja gemäß der für alle in Hamburg lebenden Kinder geltenden Schulpflicht auch müssen. Ein Verzicht auf den Schulbesuch aus eigenem Antrieb der Eltern oder Schüler, aus Angst vor der Entdeckung des illegalen Status, ist daher nicht begründet und zu erwarten.
Zum zweiten Fragenkomplex, wie weitere Fälle wie der der kleinen Jessica verhindert werden können, darf ich Sie zunächst auf den Bericht des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“ aufmerksam machen. Hier wurde von allen Fraktionen gemeinsam ein umfangreicher Empfehlungskatalog erarbeitet und einstimmig von der Bürgerschaft verabschiedet. Dieser enthielt u.a. folgende Empfehlungen an den Senat:
Verbesserung und Systematisierung der Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Institutionen (Jugendamt einschließlich des ASD, Kita, Schule/REBUS, Freien Trägern der Jugendhilfe und Polizei). Die bestehenden Einrichtungen – etwa Jugendamt und Allgemeine Soziale Dienste – müssen personell so ausgestattet werden, dass sie alle gesetzlich begründeten Aufgaben ordnungsgemäß und zeitnah erledigen können. Dazu zählen auch Trennungs- und Scheidungsberatung, Pflegeelternüberprüfungen, Beteiligung an Sorgerechtsverfahren, Regelungen von Besuchskontakten und Elternarbeit. Optimierung der Zusammenarbeit im Sinne eines ämterübergreifenden Fallmanagements (hierzu zählen neben den ASD auch z. B. die Schulen, Kindertageseinrichtungen und die freien Träger). Klärung und gegebenenfalls Änderung der Rechtslage hinsichtlich des Austauschs von Sozialdaten über Kinder und deren Familien als Voraussetzung für eine systematische Erfassung und Begleitung von potenziellen Problemfamilien. Lücken in der (gesundheitlichen) Begleitung von Kindern zwischen 2. und 4./5. Lebensjahr sollen wirksam geschlossen werden. Im Rahmen der verpflichtenden Meldekette müssen auch Kindertagesstätten Auffälligkeiten bei Kindern melden und weiterverfolgen. Die bereits verpflichtende Vorstellung der Kinder zur 4½-jährigen Untersuchung nach dem Hamburger Schulgesetz (HmbSG) ist so zu gestalten, dass die Eltern tatsächlich mitwirken müssen. Damit werden auch Kinder vorstellig, die nicht in Kinderbetreuungseinrichtungen untergebracht sind. Ausbau von Mütterberatungsstellen und Kinder- und Familienzentren. Erweiterung der Meldepflicht und verstärkte Zusammenarbeit der Schulärzte mit dem ASD und den Jugendämtern bei Hinweisen auf Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch. Alle Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben - von der Schwangerschafts- und Geburtshilfe, über Sozialarbeiter, Erzieher, Lehrer und Familienrichter - haben Bedarf an Fortbildung, um Risikofaktoren in der Familie sicher und früh erkennen zu können. Diese Menschen brauchen mehr Handlungssicherheit und Klarheit auch über gesetzliche Grundlagen.Ausführliche Informationen zum Empfehlungskatalog des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“ finden Sie unter http://www.buergerschaft-hh.de/parldok/ in der Parlamentsdatenbank in der Drucksache 18/3592.
Schon bevor der Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ seine Ergebnisse präsentierte, hat der Hamburger Senat im September 2005 sein Handlungskonzept „Hamburg schützt seine Kinder“ vorgestellt. Dies beinhaltete u.a. folgende Kernelemente: Einführung des Schulzwanges Einführung eines Zentralen Schülerregisters Datenaustausch mit den Familienkassen Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten der Jugendämter Wichtige Informationen werden im Jugendamt erhalten („Elternakte“) Eine zentrale telefonische „Hotline Kinderschutz“ für Hamburg wird eingerichtet Arbeitsanweisungen für die Jugendämter werden verbindlicher Organisation und Personaleinsatz in den Jugendämtern werden effizienter Weiterentwicklung der Jugendhilfe Frühe Hilfen werden ausgebaut Evaluation von Durchführung und Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen Ausführliche Informationen zum Handlungskonzept „Hamburg schützt seine Kinder“ finden Sie unter www.hamburgische-buergerschaft.de in der Parlamentsdatenbank in der Drucksache 18/2926. Zu den seinerzeit geplanten und ergriffenen Maßnahmen sowie deren Umsetzung wird es demnächst einen Bericht des Senats an die Bürgerschaft geben. Darüber hinaus hat der Senat gerade sein umfangreiches Programm „Lebenswerte Stadt Hamburg“ vorgestellt, das mit enormen finanziellen Mitteln Schulen und andere soziale Betreuungs- und Bildungseinrichtungen in sozial schwächeren Stadtteilen stärken soll. Ein Schwerpunkt des Programms, das besonders sechs benachteiligten Stadtteilen zugute kommen soll, sind mehr Lehrer und kleinere Klassen in Grundschulen. In den nächsten vier bis fünf Jahren sollen jeweils 20 Millionen Euro eingesetzt werden. Hierin können Sie einen weiteren kraftvollen Schritt dahin sehen, zielgerichtet strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um den heranwachsenden Hamburgerinnen und Hamburgern eine bessere Zukunftsperspektive zu eröffnen und hiermit insgesamt einer sozialen Spaltung der Stadt entgegenzuwirken.
Mit freundlichen
Grüßen
Egbert von Frankenberg