Frage an Joachim Pfeiffer von Dominik P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Warum duerfen die Buerger nicht ueber ESM und Fiskalpakt entscheiden? Warum duerfen die Buerger nicht die Eu-Kommission waehlen? Wer hat denn Barroso damals "gewaehlt"? Wir bewegen uns ja auf einen EU-Staat hin, wenn dieser in den naechsten Jahren da ist, ist dieser dann etwa totalitaer? Wir duerfen ja jetzt nicht mal die Kommission waehlen und haben ja auch sonst nichts zu sagen wenn ihr "Volksvertreter" ueber die Zukunft der europaeischen Voelker entscheidet.
Sehr geehrter Herr Preisig,
die Europäischen Institutionen sind historisch bedingt mit einem Demokratiedefizit „aufgewachsen“, das im Laufe der Geschichte allerdings schon erheblich gemildert werden konnte. Die Demokratisierung der Europäischen Union kommt – wenn auch in kleinen Schritten – voran und auch der Vertrag von Lissabon leistet dazu seinen Beitrag. Als großer Erfolg ist z. B. zu verbuchen, dass durch die Festlegung des Mitentscheidungsverfahrens als Regelverfahren in der europäischen Gesetzgebung das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem Rat wird.
Dass die meisten EU-Mitgliedstaaten die Ratifizierung von europäischen Verträgen im Wege von Parlamentsbeschlüssen durchführen, ist in den nationalen Verfassungen für die In-Kraft-Setzung von multilateralen Verträgen geregelt. Lediglich die Republik Irland muss zur Ratifizierung ein Referendum bzw. eine Volksbefragung durchführen. Die Erfahrungen mit dem Lissaboner Verfassungsvertrag zeigen im Übrigen, dass die an der Volksbefragung teilnehmenden EU-Bürger häufig nicht die gestellten Fragen beantworten, sondern politische Rechnungen begleichen, die mit dem Gegenstand des Referendums im Grunde nichts zu tun haben. Es ist natürlich theoretisch möglich, dass eines Tages auch in der Bundesrepublik Deutschland ein Volksentscheid für wichtige politische Fragen eingeführt wird. Gegenwärtig gibt es für die dazu notwendige Änderung des Grundgesetzes im Deutschen Bundestag jedoch keine parlamentarische Mehrheit.
Die Forderung nach mehr Volkssouveränität für die Bürger von Europa ist sicherlich angesichts der europäischen Krise eine ganz aktuelle. Bereits in ihrem Beschluss vom letzten Parteitag in Leipzig im November 2011 hat die CDU als erste deutsche Partei gefordert, dass der Präsident der Europäischen Kommission künftig von allen Unionsbürgern direkt gewählt werden und die übrigen Kommissionsmitglieder sich auch weiterhin einem gemeinsamen Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen müssen.
Zuletzt im Mai 2012 hat auch Bundesfinanzminister Schäuble anlässlich der Karlspreis-Verleihung gefordert, den EU-Kommissionspräsidenten direkt wählen zu lassen. Diese Forderung unterstütze ich auch als nationaler Parlamentarier. Europa sollte in der Welt klarer mit einer Stimme auftreten. Dazu braucht es ein besseres demokratisches Fundament. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten wäre ein Schritt zu einer echten europäischen Regierung und würde alle Bürger von Portugal bis Finnland einbeziehen.
Auf dem EU-Gipfel im Oktober 2012 wollen die Regierungschefs erstmals über eine Reform der Euro-Zone beraten. Die vier Präsidenten van Rompuy (Europäischer Rat), Barroso (Kommission), Juncker (Euro-Gruppe) und Draghi (Europäische Zentralbank) haben bereits Pläne entwickelt, mehr Demokratie auch in die Währungsunion zu bringen. Die Euro-Zone soll ihr eigenes Parlament bekommen.
Die politische Einheit Europas muss ein Gesicht bekommen. Wir brauchen mehr denn je starke, funktionsfähige und für die Bevölkerung nachvollziehbare europäische Institutionen. Folgende Daten zeigen eindringlich, dass wir unsere Kräfte bündeln müssen, wenn wir in Europa weiterhin ein starkes Gewicht auf der Weltbühne bleiben wollen:
Verglichen mit anderen Regionen wächst die Bevölkerung der EU relativ langsam. Zwischen 1960 und 2005 stieg die Weltbevölkerung um über hundert Prozent von 3.032 auf 6.518 Millionen Menschen, während die Bevölkerung der EU-27 nur um 21,9 % von 403 auf 491 Millionen Einwohner anwuchs (heute etwa 501 Mio.). Der Anteil der Bevölkerung der EU-27 an der Weltbevölkerung fiel zwischen 1960 und 2005 von 13,3% auf 7,5%. Nach der Projektion (mittlere Variante) wird sich diese Tendenz fortsetzen, so dass im Jahr 2050 die EU-27 nur noch etwa 5,4% der Weltbevölkerung ausmachen wird. Während das UN/DESA für die Jahre 2010 bis 2060 einen Anstieg der Weltbevölkerung um 39,4% prognostiziert, ist Europa die einzige Region der Welt, für die in diesem Zeitraum ein Bevölkerungsrückgang angenommen wird (minus 4,9 Prozent).
Der relative Anteil der EU am globalen Bruttosozialprodukt schrumpft ebenfalls, da ihr Wachstum geringer ist als das ihrer wichtigsten Wettbewerber. Im Zeitraum von 1970 bis 2009 sank es von 37,7 auf 28,5% – das entspricht einem Rückgang von 24,4%. Zum Vergleich: Der Anteil Chinas am Welt-BIP im selben Zeitraum erhöhte sich kontinuierlich von 0,9 auf 7,6% – das entspricht einem Wachstum um 712%. Und auch die Entwicklung in den Jahren 2009/2010 weicht nicht von diesem Trend ab: Nach Schätzungen der UNCTAD hat sich das BIP der EU von 2009 auf 2010 um 1,8 Prozent erhöht. Chinas BIP wuchs hingegen um 10,2 Prozent.
Die Sozialausgaben im Gegenzug werden steigen, da der Bevölkerungsanteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter abnimmt, der Anteil der älteren Menschen aber wächst. Steigende Altenquotienten werden somit eine deutliche Zunahme der Belastung durch die Sozialausgaben (Renten, Gesundheitsversorgung, Betreuung in Pflegeeinrichtungen) mit sich bringen. Die Sozialausgaben in % des BIP stiegen allein in der Eurozone (17) von 26,7% im Jahr 2000 auf 30,2% in 2009.
Nur wenn wir zusammen stehen, werden wir ein starkes Europa bleiben. Wenn wir unsere Bürger auf diesen europäischen Weg mitnehmen wollen, brauchen wir auch eine stärkere demokratische Legitimation.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Joachim Pfeiffer MdB