Frage an Jerzy Montag von Andreas S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Montag!
Sie haben kürzlich in einer Antwort auf eine Frage aus dem Jahr 2011 geschrieben:
"Ziel des Wahlrechtes muss es sein, den Wählerwillen wie er sich aus der Summe aller Zweitstimmen ergibt, eins zu eins in der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages abzubilden. Dies wurde vor der Änderung des Wahlgesetzes aufgrund der Überhangmandate nicht erreicht."
Das wird auch weiterhin nicht erreicht, weil durch die Sperrklausel viele Zweitstimmen nicht berücksichtigt werden. Die Verzerrung, die sich hieraus ergibt, ist wesentlich größer als die durch die Überhangmandate.
Nun wäre eine solche Aussage nicht sonderlich bemerkenswert, weil man unterstellen könnte, dass im Bundestag momentan ohnehin keine Mehrheit für eine Abschaffung der Sperrklausel oder Umwandlung in eine mit der Wahlgleichheit verträgliche Form (mittels Alternativstimmen) absehbar ist und das deshalb praktisch nicht relevant ist. Bisher war ich aber davon überzeugt, dass die Grünen prinzipiell für demokratische Mindeststandards wie die Wahlgleichheit eintreten, und hab sie gerade auch deshalb öfters gewählt.
Überrascht hat mich allerdings die Nachricht, dass sich die Grünen im Bundestag aktiv an der Einführung einer Sperrklausel bei der Europawahl beteiligen wollen, und insbesondere Ihre Aussagen dazu, mit denen Sie in der Presse zitiert worden sind (siehe auch in der vorigen Frage). Heißt das also, dass die Wahlgleichheit und damit die möglichst proportionale Umsetzung von Stimmen in Sitze für die Grünen kein wichtiges Ziel mehr ist? Oder gilt das bloß für das Europaparlament nicht (eventuell deshalb, weil da Stimmen aus verschiedenen Staaten ohnehin ungleiches Gewicht haben)? Muss ich künftig auch Initiativen der Grünen zur Einführung kommunaler Sperrklauseln (die sie bis vor Kurzem noch erfolgreich bekämpft haben) erwarten?
Viele Grüße
Andreas Schneider
Sehr geehrter Herr Schneider,
Absolute Wahlgleichheit kann mit keinem Wahlrecht garantiert werden. Es ist eine historische Erfahrung, dass auch die Funktionsfähigkeit eines Parlaments ein hohes demokratisches Gut ist. Wenn sich, wie für das Europaparlament, europaweit sehr viele Kleinstparteien um Sitze bewerben, riskiert man ohne eine Zugangshürde, die vollständige Zersplitterung und damit Arbeitsunfähigkeit des Parlaments, das Bilden parlamentarischer Mehrheiten wird erschwert und damit letztendlich das Parlament als der maßgebliche Demokratieträger- die Verbindung zwischen dem europäischem Volk und den Entscheidungsträgern der europäischen Ebene- geschwächt.
Eine Hürde ist nichtsdestotrotz nur dort legitim, wo sie im obigen Sinne zwingend notwendig ist. Wir Grüne setzten uns daher stets für die schonendste Alternative ein. So haben wir bei der Einführung der 3%-Klausel Rückausnahmen zur Hürde auf europäischer Ebene vorgeschlagen, sofern eine Partei zwar nicht in Deutschland aber europaweit die entsprechende Stimmanzahl erreicht. Auch lehnen wir Sperrklauseln auf kommunaler Ebene ab. Die Kommunalvertretungen sind anders als die Parlamente nicht gesetzgebend und regierungsbildend tätig. Ihnen sind in erster Linie verwaltende Tätigkeiten anvertraut, zu denen sich Sachmehrheiten leichter finden lassen.
mit freundlichem Gruß.
Jerzy Montag