Frage an Jan Kellermann von Fro T. bezüglich Soziale Sicherung
Hallo, Herr Kellermann,
Im Tagesspiegel vom 27.8. Schlägt Adrienne Goeler vor, wegen der großen Zahl der Menschen in der Stadt, die in prekären Verhältnissen leben, Berlin zu einem Labor zu machen, in dem mit wissenschaftlicher Begleitung das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens für alle ausprobiert wird. Sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen? Bitte, geben Sie mir eine Begründung.
Freundlichen Gruß
Fro Tinnappel
Hallo, Fro Tinnappel,
vielen Dank für Ihre Frage. Vorab: Sie nehmen Bezug auf einen Beitrag von Adrienne Goehler, die als ehemalige Kultursenatorin für Bündnis90/Die Grünen in Wahlkampfzeiten einen Text gegen den Kultursenator und Spitzenkandidaten der SPD, Klaus Wowereit, formuliert. Es handelt sich dabei um einen fiktiven Brief an eine fiktive Kultursenatorin, die fiktiv vorschlägt, dass sich das Land Berlin an einer fiktiven Erprobung des Bedingungslosen Grundeinkommens bewerben solle. Mit Verlaub, ich halte dies für keine geeignete Grundlage für eine Auseinandersetzung um die Frage, ob wir unser bisheriges System von Steuern und Transferzahlungen komplett umstellen wollen und dabei den bisherigen Begriff von Erwerbsarbeit über den Haufen werfen.
Dennoch liefert die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) Antworten auf zahlreiche Fragen, die zur Zeit und in Zukunft für unsere Gesellschaft relevant sind. Wie gehen wir mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit um, die nicht klassischen Regeln der Erwerbsarbeit unterliegt? Wie gehen wir mit Patchwork-Erwerbsbiografien um? Wie gehen wir mit Langzeitarbeitslosen um? Wie sorgen wir bei Kulturschaffenden und Kreativen für ein gutes Auskommen? Wie gehen wir mit der zunehmenden Altersarmut um? Wie mit Menschen, die aus individuellen Gründen keiner Erwerbsarbeit nachgehen können? Hier liefern die Modelle des BGE durchaus sinnvolle Antworten.
Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft für viele Leute nach wir vor ein, wenn nicht "das" sinnstiftende Element in ihrem Leben. Die Idee des BGE hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Blütephase. Daher ist das Konzept offensichtlich unabhängig vom Postfordismus zu betrachten - also einer Zeit, die geprägt ist von spezialisierter, wissensbasierter Arbeit und einem damit einhergehenden Niedriglohnsektor sowie einer relativ hohen Arbeitslosigkeit. Ich finde es daher spannend zu beobachten, ob unter diesen Parametern die Bedeutung von Erwerbsarbeit abnehmen wird, was für mich die Voraussetzung für die breite Akzeptanz des BGE wäre. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Bedeutung keinesfalls abnimmt.
In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass der Vorschlag von Adrienne Goehler stammt - denn gerade für Kulturschaffende ist das BGE ein sinnvolles Konzept. Sozusagen eine "Künstlersozialkasse für alle Lebenslagen". Jedoch ist das Instrument nutzlos, wenn es bestimmte Berufsgruppen bevorzugt!
Aus ökonomischer Sicht ist für mich das Verhältnis von BGE zum Niedriglohnsektor interessant. Die Anzahl der Modelle und die Kritikansätze sind aber zu komplex, um hier darauf im Einzelnen einzugehen. Dafür bitte ich um Verständnis.
Zusammenfassend: Die Idee des BGE ist faszinierend. Auch wenn ich zur Zeit skeptisch bin, ob die Idee die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz findet, ist die weitere Diskussion notwendig und fruchtbar. Denn die Beantwortung der bereits o.g. Fragen entscheidet darüber, ob wir unseren gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt auch in Zukunft werden bewahren können. Bei der Diskussion ist jedoch auch zu bedenken, dass die Einführung des BGE mit einer kompletten Umstellung des staatlichen Einnahmesystems einhergehen muss. Daher würde ich ggf. weniger komplexe Instrumente bevorzugen, um einzelne der o.g. Fragen schneller lösen zu können, anstatt auf den kompletten Systemwechsel hin zum BGE zu warten.
Den Vorschlag einer Erprobungsphase halte ich für illusorisch, da Ein- und Ausnahmeseite zusammenhängen und sich die Einnahmeseite nicht beliebig in ausgewählten Gebieten manipulieren lässt. Die Einführung würde schrittweise erfolgen.
Mit freundlichen Grüßen,
Jan Kellermann