Sehr geehrte Frau Casel, wie erklären Sie sich die geringe Zustimmung für die Linke? Müssten die Ziele der Partei anders fokussiert werden? Oder müssten Sie taktisch anders vorgehen?
Ich teile weitgehend die Zielsetzungen, die Sie und Ihre Partei formulieren. Überraschend finde ich aber immer wieder den geringen Rückhalt in der Bevölkerung. In der Wahlarena in Bergisch Gladbach haben Sie an einer Stelle die Bedeutung der Entwicklungspolitik betont. Müssten vielleicht die Ziele der Partei stärker hier gebündelt werden? Vielleicht sollte man hier ein deutliches Merkmal der Partei anstreben. Damit könnte man gleichzeitig der Verkleinerung der Schere zwischen Arm und Reich, Klimapolitik, Vermeidung von kriegerischen Auseinandersetzungen und der aktiven Bekämpfung von Fluchtursachen näherkommen. Oder müsste sich die Linke genauer die Vorstellungen von Sarah Wagenknecht anschauen?
Das ist eine sehr gute Frage der es lohnt nachzugehen.
Die Linke steht für Gerechtigkeit, gute Löhne, sinnvolle Jobs, gleiche und optimale Chancen für alle, gute Daseinsvorsorge, Förderung von Kunst und Kultur, konsequente Friedenspolitik. Wir vertreten die Anliegen all derjenigen die gehört und gesehen werden wollen mit Ihren Anliegen, die Demokratie wirklich leben und mitgestalten wollen, in einem Meinungsbildungsprozess von unten nach oben. Wir vertreten die Mehrheit der Bevölkerung, sozusagen die 99%, haben aber die Macht der großen Medienkonzerne und Social-Media Plattformen, mit den jeweils dahinterstehenden mächtigen Lobbys gegen uns. Leider ballt sich die meiste Macht und Mittel bei den 1% zusammen, die eben nicht gewillt sind Ihr Kapital und Produktionsmittel zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Sehr deutlich wird das gerade an der Nichtumsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele, zu denen sich auf dem Papier alle Staaten verpflichtet haben. Mit nur 10% der weltweiten Rüstungsausgaben könnte Hunger und extreme Armut weltweit beseitigt werden, mit nur weiteren 10% eine gute Bildung für alle Menschen und damit eine Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden. Mit 50% der weltweiten Rüstungsausgaben könnten alle nachhaltigen Entwicklungsziele verwirklicht werden, auch in Europa. Warum passiert das nicht? – weil es von den Regierenden und deren Lobby, dem industriellen militärischen Komplex einfach nicht gewollt wird.
Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass eine Wahlmanipulation stattfindet, aber nicht durch Russland, sondern eben durch die Medienkonzerne die längst nicht mehr objektiv und umfassend berichten, sondern tendenziös im jeweiligen Interesse und vor allem durch die Meinungsmacht der großen Plattformen wie Google, Twitter und Facebook. Das ist eine große Gefahr für unsere Demokratie. Ich habe das selbst erlebt, dass Posts von mir und anderen Linken durch einen Algorithmus unterdrückt, also im Überblick nicht angezeigt werden, sondern nur wenn man gezielt danach sucht. Dann werden tatsächlich eine Menge Posts gelöscht und politisch Aktive sogar gesperrt.
Auch Google scheint die Seiten der Linken im Such-Algorithmus zu benachteiligen und bevorzugt u.a. eher die der Grünen – wobei es im Endeffekt so ist, dass diejenigen die Google am meisten bezahlen auch am präsentesten in den Suchanfragen sind.
Um auf Ihre Frage nach den Positionen von Sahra Wagenknecht zu kommen - gerade ihre Äußerungen werden von vielen Medien oft aus dem Kontext oder verfälscht wiedergegeben.
Sahra ist eine überaus kompetente und glaubwürdige Politikerin, die zu ihren Positionen steht, auch wenn sie kontrovers sind. Sie sagt den Menschen was sie hören müssen, nicht was sie hören wollen und argumentiert gleichzeitig immer gekonnt inhaltlich, ohne in Auseinandersetzungen persönlich zu werden. Sie geht in ihrem Buch auch der wichtigen Frage nach, warum unsere Partei in der jetzigen Situation in der sich die Mehrheit der Bevölkerung eine sozialere Politik wünscht und die Union im öffentlichen Ansehen einen Tiefpunkt erreicht, keinen Stimmenzuwachs bekommt.
Leider gibt es in der immer fragmentierteren Gesellschaft die Tendenz auf Meinungen vom Hörensagen zu beharren und abweichende Meinungen auszugrenzen oder gar zu zensieren – dem müssen wir entgegenarbeiten durch Aufklärung, Perspektivwechsel und gegenseitigem Verständnis. Pluralismus ist eines der wichtigsten Wesensmerkmale einer offenen Gesellschaft sowie unserer Partei und darf nicht verlorengehen.
Sahra zeigt uns die andere Seiter der Medaille – es ist unsere Aufgabe beide Seiten zusammenzuführen. Für jedes Individuum ist die Frage wer bis ich essentiell und jeder braucht die Zeit, Freiraum und Möglichkeiten dieser Frage nachzugehen – aber es ist eine persönliche Frage. Wenn wir eine Verbesserung des Lebens für Alle, eine gerechte Verteilung von allen zur Verfügung stehenden Gütern, Vielfalt schätzen und Gleichheit im Sinne von Gleichberechtigung und gleichen Chancen für alle wollen, ist es kontraproduktiv selbst immer die Unterschiede hervorzuheben und Menschen in immer kleinere Schubladen nach Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung einzuteilen und gegeneinander auszuspielen. Wir müssen darauf achten alle mit dem gleichen Interesse an unserer Zukunft mitzunehmen. Veränderung gelingt in großer Gemeinschaft, nicht in zersplitterten kleinen Interessensgruppen wo jeweils nur Partikularinteressen betont werden, die so von den Herrschenden gegeneinander ausgespielt werden können. Gleichzeitig sollte in der Gemeinschaft jede/r als Individuum geschätzt werden wie er/sie ist und andere Meinungen ebenso akzeptiert werden wie individuelle Lebenseinstellungen. Es geht darum Widerstände aushalten, sondern Widerstände zu vereinen. Und genau diese Fähigkeit ist es ja die uns von Robotern unterscheidet die Menschen ausmacht.
Mir liegen die „Nachhaltigen Entwicklungsziele“ (SDGs) und ihre Umsetzung am Herzen. Ich hatte mich bereits in deren Entstehungsprozess bei der UN eingebracht und bin in verschiedenen Bereichen dazu engagiert. Besonders der universelle Aspekt der SDGs, dass sie jeden betreffen in jedem Land und jede/r das Recht hat sie einzufordern, kann dazu ein Schlüssel sein – sie sind eben nicht „nur“ Entwicklungspolitik.
Die SDGs sind weitreichende anspruchsvolle Ziele, berücksichtigen allerdings zu wenig die heutigen Machtstrukturen. Die Parlamente verlieren immer mehr an Macht, dafür haben Dax Unternehmen ihre eigenen Lagezentren, da sie die Einrichtungen der Regierungen nicht für ausreichend halten. Multinationale Konzerne haben mehr Umsatz als das BIP von Staaten und weder Nationalstaaten noch internationale Institutionen können sie kontrollieren und sie können nicht durch internationale Gesetze zur Rechenschaft gezogen werden. Deren Interesse ist es aber nicht den Hunger zu bekämpfen, sondern ihre Kapitalrendite zu erhöhen. Sie mieten private Armeen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die von diesen Unternehmen dominierten westlichen Regierungen verfolgen rücksichtslos ihre Interessen, Ressourcen und Märkte nur für sich selbst zu sichern, indem sie Krieg wieder als Mittel der Politik forcieren. Sie führen Stellvertreterkriege auf dem Territorium weniger entwickelter Länder und profitieren von Waffenexporten, Ressourcenausbeutung und sogar Wiederaufbauverträgen.
Neoliberale Freihandelsabkommen, die an Entwicklungshilfe geknüpft werden mit Steuerfreiheit und Gewinngarantie für ausländische Unternehmen stehen jeder Entwicklung einheimischer Wirtschaft in den Ländern des Südens im Weg. Westliche Militärinterventionen und Waffenlieferungen in Krisenregionen fördern Staatszerfall und Terrorismus.
Bedenklich ist zudem die Verschmelzung der Außen-, Verteidigungs- und Teile der Entwicklungspolitik, die im EAD zum Ausdruck kommt. In der zivil-militärischen Zusammenarbeit mit der zivil-militärischen Planungsstelle "Crisis Management and Planning Directorate" (CMPD seit 2005) werden zivile Formen der Konfliktbearbeitung nicht mehr als Alternative zu Militäreinsätzen eingesetzt, sondern zugunsten des Militärs instrumentalisiert und verdrängt oder zu deren Erfüllungsgehilfen degradiert.
Es darf hier allerdings nicht darum gehen Elemente der zivilen Konfliktbearbeitung für das militärisch definierte Konzept der „vernetzten Sicherheit“ verwertbar zu machen und gar noch Gelder zur Entwicklungshilfe für militärische Zwecke umzuwidmen. Daher ist auch die Zusammenlegung von Entwicklungshilfe und Verteidigungshaushalt abzulehnen. Humanitäre Hilfe und wirksame Entwicklungshilfe müssen weiter ausgebaut werden, militärische Komponenten müssen davon getrennt und zurückgefahren werden.
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben hohe Kosten verursacht, aber keines ihrer proklamierten Ziele erreicht. Sie haben in den betreffenden Regionen weder Frieden noch Entwicklung gebracht, sondern zur Gewalteskalation zur Verfestigung von Konfliktlagen und zur Ausbreitung von Terrorismus beigetragen.
Um ein gutes, gesundes und erfülltes Leben zu führen, müssen wir nicht nur im Einklang miteinander, sondern auch mit der Natur leben. Das Problem: Das Kapitalistische System zerstört durch den ungebremsten Wettbewerb um die billigsten Rohstoffe, und Arbeitskräfte sowie die besten Absatzmärkte und Transportwege sowohl die Umwelt, die soziale Gerechtigkeit und das friedliche Zusammenleben der Völker. Der Wachstumskapitalismus ignoriert, dass wir in einer Welt leben, deren Ressourcen endlich sind und unendliches Wachstum daher nicht möglich ist. (Denn es gibt kein Wirtschaftswachstum ohne wachsenden Rohstoff- und Energieverbrauch.)
Wir müssen ein System finden, das Menschen davor bewahrt sich selbst oder der Natur bzw. der Welt zu schaden. Wir brauchen ein Umdenken im Sinne des "Buen Vivir" Konzepts oder der „Just Transition“ Bewegung der indigenen Völker Südamerikas. Sie haben die Natur sogar als juristische Person in die Verfassung aufgenommen (Z.b. Bolivien) und verbinden ein Leben im Einklang mit der Natur mit solidarischem Wirtschaften und einer Veränderung im Politikstil. Wir brauchen den globalen Wandel in Richtung Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, ökologischem Gleichgewicht und Wohlbefinden!
Verantwortung übernehmen muss Deutschland und die EU, nicht durch Aufrüstung und Auslandseinsätze, sondern indem es sich für die Beseitigung von Armut, den Schutz der Natur, soziale Gerechtigkeit, demokratische Teilhabe und Frieden einsetzt – die von allen Staaten in der Agenda 2030 festgeschrieben wurden. Hier wird auf globale Partnerschaft statt nationale Abschottung oder wirtschaftliche oder militärische Auseinandersetzungen gesetzt. Wir brauchen die Senkung der globalen Militärausgaben für die Ursachenbekämpfung von Krisen und Konflikten. UNSER Geld darf nicht weiter für Rüstung und Kriege verschwendet werden! Krieg muss als Mittel der Politik wieder geächet werden. Entwicklungshilfe darf nicht an Marktliberalisierungsbedingungen geknüpft sein und nicht von militärischen Maßnahmen begleitet werden! Wir brauchen eine kooperative und solidarische Außen- und Entwicklungspolitik! Fokussieren würde ich dabei neben der Entwicklungspolitik vor allem auf Dialog mit Perspektivwechsel, Interessensausgleich internationaler Kooperation.