Frage an Ingo Wellenreuther von Thomas W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Wellenreuther,
der Entwurf zum ESM-Vertrag liegt ja nun vor (z.B. hier: http://www.peter-bleser.de/upload/PDF-Listen/E-Mail-Info_Eurostabilisierung/Entwurf_Vertrag_ESM.pdf ), und was drin steht, kommt einem Ermächtigungsgesetz für die Finanzmärkte gleich, unter weitestgehendem Ausschluß der nationalen Parlamente.
Können Sie so etwas als Demokrat wirklich zustimmen? Wenn das der Preis sein soll für eine funktionierende Wirtschaft und die europäische Idee, ist dieser Preis dann nicht viel zu hoch? Hier geht es doch nicht mehr um irgendwelche Koalitionszwänge oder wirtschaftliche Notwendigkeiten, sondern viel grundsätzlicher um fundamentale Fragen unserer demokratischen Gesellschaft.
Das Thema ist einfach zu wichtig, um als ´alternativlose´ Maßnahme zur Stützung der Wirtschaft mehr oder weniger zügig und mit Koalitionszwang durch den Bundestag gewunken zu werden. Es geht hier nicht mal vornehmlich um Wirtschaft und Finanzen, sondern um das Wesen unserer Demokratie und die Rolle, die der Bundestag künftig darin spielen soll. Egal, welche Meinung man letztendlich zum ESM-Vertrag vertritt: Wenn man nur mit Wirtschaft und Sachzwängen argumentiert, wird man dem Thema nicht gerecht...
Was ist Ihre persönliche Haltung zu diesem Vertragsentwurf? Und wenn ich jetzt mal unterstelle, dass sie beabsichtigen, dem Vertragsentwurf im Bundestag zuzustimmen: Wie begründen Sie das gegenüber jemandem, der demokratische Grundsätze über wirtschaftliche Notwendigkeiten stellt?
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Weller
Sehr geehrter Herr Weller,
vielen Dank für Ihre Frage, auf die ich Ihnen gerne antworte.
Im Wesentlichen kritisieren Sie den Vertragsentwurf des ESM als undemokratisch und dass dieser einem Ermächtigungsgesetz gleich komme und die nationalen Parlamente weitestgehend ausschließe. Sie nennen allerdings keine konkreten Bestimmungen des Vertragsentwurfs, auf die sich diese Auffassung stützt. Ich kann daher nur spekulieren, dass Sie sich auf Artikel und Videos, die im Internet kursieren, beziehen, wonach der Gouverneursrat, der den ESM leiten soll, quasi machen könne, was er wolle, insbesondere das Grundkapital erhöhen. Das ist schlichtweg falsch.
Zwar sagt Art. 10 Abs. 1 S. 2 des ESM-Vertragsentwurfs: "Er (Anm. der Gouverneursrat) kann die Änderung des Grundkapitals beschließen ...". Es lohnt sich aber, weiter zu lesen, denn in Art. 10 Abs. 1 S. 3 steht: "Dieser Beschluss tritt in Kraft, sobald die ESM-Mitglieder die Verwahrstelle über den Abschluss ihrer geltenden nationalen Verfahren in Kenntnis gesetzt haben." Das heißt also, die Nationalstaaten (die Parlamente!) müssen - wie übrigens dem ESM selbst - zuvor zustimmen!
Der Gouverneursrat soll übrigens kein anonymes Gremium sein, das mit Deutschland nichts zu tun hat, sondern dieser Rat soll sich aus den Finanzministern der Eurozonen-Länder zusammensetzen, d. h. auch der deutsche Finanzminister sitzt in diesem Rat.
Weiterhin drängen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die anderen Fraktionen schon lange auf eine starke Beteiligung des Deutschen Bundestags, wie sie nun auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 07. September 2011 als Erfordernis angesehen hat. Damit soll die demokratische Legitimation, die Sie anzweifeln, gerade sicher gestellt werden.
Hinsichtlich des bis Mitte 2013 geltenden EFSF-Fonds (dem Vorläufer des ab Mitte 2013 geplanten ESM) soll dies vor allem durch folgende Punkte gewährleistet werden:
1. Der Deutsche Bundestag muss vorher zustimmen, wenn Länder Kredite erhalten sollen oder bestehende Gewährleistungen verändert werden sollen.
2. Die Leitlinien des EFSF-Fonds für das konkrete, laufende Geschäft sind vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zu billigen, bevor der deutsche Vertreter im Gremium des EFSF-Fonds diesen zustimmen kann.
3. Werden die Bedingungen für bereits genehmigte Notmaßnahmen nachträglich angepasst bzw. geändert (z.B. Änderungen an der Laufzeit bzw. an der Zinshöhe für bestehende Hilfskredite), bleibt aber der genehmigte Gewährleistungsrahmen für das jeweilige Programm unverändert, ist die Zustimmung des Haushaltsausschusses erforderlich.
4. Der Haushaltsausschuss muss zeitnah und umfassend über alle Entscheidungen des EFSF-Fonds im laufenden Geschäft informiert werden.
5. Das Plenum des Deutschen Bundestags kann die genannten Befugnisse des Haushaltsausschusses an sich zu ziehen und selbst entscheiden.
Ihre Bedenken einer unzureichenden demokratischen Legitimierung kann ich daher insgesamt in keiner Weise teilen.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Wellenreuther MdB