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Ilja Seifert
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Frage von Luis Alberto Fernández V. •

Frage an Ilja Seifert von Luis Alberto Fernández V. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

ich befinde mich z.Z. im Berufsbildungsbereich einer WfbM [= Behindertenwerkstatt]. Nach § 4(1) Satz 1 WVO [= Werkstättenverordnung] soll der Betrieb Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit durchführen. Nach § 4(4) Satz 2 WVO soll der Betrieb das Selbstwertgefühl des behinderten Menschen fördern.

Dasselbe gilt im übrigen für die Tätigkeit eines Behinderten im Arbeitsbereich (vgl. § 5(3) WVO).

Nun, ich habe bisher keine Maßnahmen gesehen, die dieses Ziel erreichen wollen, geschweige denn fördern oder sonst pflegen.

Anstatt dessen stelle ich fest, daß in den zwei Behindertenwerkstätten, wo ich bisher gearbeitet habe, das Selbstwertgefühl der Behinderten eher geschwächt als stabilisiert, geschweige denn gepflegt oder sonst gefördert wird.

Sind diese Teile der WVO i.V.m. §§ 1, 4, 33(6) und 136(1) SGB IX überhaupt ernstzunehmen? Oder handelt es sich dabei vielmehr um „Gesetze nur zum Anschauen“?

Welche Maßnahmen ergreifen Bund und Land zur Verwirklichung dieser gesetzlichen Ziele, die geeignet sind, die Persönlichkeit des Behinderten frei und gesund entfalten zu lassen und sie dabei zu erschließen? An welche Stelle kann sich ein Behinderter beim Zuwiderlaufen dieser Zielsetzungen durch die Werkstatt wenden? Denn im Augenblick stehen uns weder die Behindertenbeauftragten noch der Integrationsfachdienst noch der Sozialpsychiatrische Dienst noch das Integrationsamt noch die Sozialministerien zur Verfügung.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes am Alexanderplatz (Anschrift: Alexanderstr. 1) habe ich bisher nicht probiert, aber so gut und verantwortlich kann m.E. diese Behörde auch nicht sein.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Luis Fernández Vidaud

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Vidaud,
lieber Luis,

da wir einander kennen, will ich nicht so tun, als wüßte ich nicht, wer mich da fragt. Und ich will auch nicht gekünstelt "Sie" sagen, wenn wir uns doch seit Jahren dutzen.

So weiß ich natürlich auch, daß Dich diese Frage schon sehr lange beschäftigt. Und daß wir schon häufig darüber debattierten.

Generell antworte ich Dir deshalb auch auf diesem - öffentlichen - Wege, daß der gesetzliche Auftrag keinesfalls als bloßes Lippenbekenntnis mißzuverstehen sein sollte. Selbstverständlich sollte die Schaffung von Voraussetzungen für die freie Persönlichkeitsentfaltung jedes Menschen - egal, ob behindert oder nicht; und auch egal, welcher Art oder Ursache die Behinderung ist - immer zu den Kernaufgaben jedweder Politik gehören. Und selbstverständlich sollte diese politische Rahmensetzung dann auch in der Praxis ausgefüllt werden.

Das Gesetz (ge)bietet bewußt diese Möglichkeit. Es ist eine Chance.

Leider wird sie im Alltag häufig negiert. Ich weiß das. Und ich finde das schlecht. In diesem Punkte teile ich Deine Intention. Gelegentlich empfindet man dies als "Luxus", den man sich im Produktionsprozeß nicht "leisten" könne.

Aber genau das ist der Fehler. Erstens sollten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfMB) überhaupt nicht dem ökonomischen Druck eines wettbewerbsergebenen "Produktionsprozesses" ausgesetzt sein. WfMB sollten vielmehr (wieder) in erster Linie als soziale und pädagogische, tagsstrukturierende und erfolgserlebnisorganisierende Instititutionen verstanden werden, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen ihre Teilhabechancen erhöhen, indem sie - gegenseitig - ihre jeweiligen Fähigkeiten erkennen und fördern. Zweitens sollte nirgendwo der Produktionsdruck (eigentlich müßte ich wohl sagen: der Gewinnerzielungsdruck) so gewaltig sein, daß er die Persönlichkeitsentfaltung der in ihm handelnden Frauen und Männer stört oder sie gar verhindert. Ich sehe also - in diesem Punkte - gar keinen so großen Unterschied zwischen WfMB und anderen Betrieben, erst recht nicht zwischen Werkstattmitarbeitern und anleitenden Angestellten.

Deshalb, lieber Luis, ist es richtig, überall anzuprangern, wo diese Aufgabe nicht oder nur unzureichend erfüllt wird. Gleichzeitig halte ich es aber auch für richtig, diesen Maßstab an jede und jeden Beteiligten anzulegen. Auch die in den WfMB Beschäftigten tragen durch ihr Verhalten dazu bei, ob das allgemeine Betriebsklima eher persönlichkeitsfördernd oder -hemmend ist. Anprangern allein nützt wenig, wenn Du die Möglichkeiten, die man Dir bietet, eine nach der anderen ausschlägst. Auch "die Anderen" - also alle und Jede/Jeder - haben das Recht ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Sie haben nicht nur die Pflicht, Dir dafür gute Bedingungen zu schaffen.

Du berufst Dich auf die gesetzliche Pflicht, "Maßnahmen" zur Persönlichkeitsentwicklung durchzuführen. Ja, was verstehst Du denn unter "Maßnahmen"? Soll etwa täglich eine gewisse Zeit - wenn ja: wieviel? Eine halbe Stunde? Eine ganze? Zwei? - unter der Überschrift "Maßnahme" stehen, in er dann gesagt wird: "So, jetzt entfaltet mal alle schön Eure Persönlichkeit! Und zwar so frei wie möglich." Oder können/sollten solche "Maßnahmen" nicht vielmehr darin bestehen, während der gesamten Zeit des Zusammen-Seins eine Atmosphäre zu schaffen, in der jede und jeder Einzelne sich wohlfühlen kann, so daß alle mit möglichst positiven Erlebnissen, Eindrücken und/oder Gefühlen nach Hause gehen? Daß in WfMB - sowohl im Förder- als auch im Produktionsbereich - dazu auch gemeinsame Wanderungen, Spiele, Ausgleichsübungen, kulturelle Selbstbetätigung und/oder individuelle Erholungsphasen, Pausen, physiotherapeutische und/oder psychologische Behandlung usw. gehören können/sollten, steht außer Frage. Aber in jedem Falle sind beide Seiten aktiv: Dein "Maßnahmeerfinder" und Du! Ihr Beide seid Väter des Erfolgs oder des Mißerfolgs.

So. Jetzt beantwortete ich diese Frage sehr ausführlich. Und hätte doch noch so viel dazu zu sagen. Dennoch denke ich, daß es den Rahmen dieses Podiums spränge, wenn ich hier noch ausführlich auf viele weitere Für und Wider einginge.

Deshalb verabschiede ich mich
mit freundlichen Grüßen
Dein

Ilja Seifert