Wie ist das Gesetz zu Vollsanktionen des Bürgergeldes mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 zu vereinbaren?
Sehr geehrter Herr Heil,
der Bundestag hat kürzlich auf Ihren Vorschlag hin beschlossen, dass Bürgergeld-Beziehenden die Leistung vollständig gestrichen wird, „wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich willentlich weigern, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen“. Im Jahr 2019 urteilte das Bundesverfassungsgericht das Kürzungen des Alg.2 von mehr als 30 % nicht mit der Menschenwürde und damit nicht mit der Verfassung vereinbar wären.
Sämtliche Medien, die ich dazu finden konnte fassten dieses Urteil damals so auf, dass es künftig keine Sanktionen des Alg2 und seines Nachfolgers des Bürgergeldes geben könne, die 30 % des Regelsatzes übersteigen.
https://www.tagesschau.de/inland/hartz-vier-urteil-105.html
https://taz.de/Gerichtsurteil-zu-Hartz-IV/!5639077/
https://www.sueddeutsche.de/politik/hartz-sanktionen-bundesverfassungsgericht-1.4700299
Daher frage ich Sie, wie dieses Gesetz mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 zu vereinbaren ist.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Z.
Sehr geehrter Herr Z.,
vielen Dank für Ihre Nachricht.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) entschieden, dass der Staat grundsätzlich Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten einsetzen darf. Wie Sie richtig ausführen, wurden die Leistungsminderungen in Folge dieses Urteils neu geregelt. Mit dem Inkrafttreten des Bürgergeld-Gesetzes zum Jahresanfang 2023 gilt nun bei Pflichtverletzungen (bspw. Ablehnung einer Arbeit, Ausbildung oder Abbruch einer Eingliederungsmaßnahme ohne wichtigen Grund) eine gestaffelte Minderung des Bürgergeldes von zunächst zehn Prozent für einen Monat, bei einer zweiten Pflichtverletzung von 20 Prozent für zwei Monate und in der letzten Stufe von 30 Prozent des Regelbedarfes für drei Monate. Erscheinen Bürgergeld-Berechtigte ohne wichtigen Grund nicht zu einem Termin im Jobcenter (sog. Meldeversäumnis) wird der Regelbedarf um 10 Prozent für einen Monat gemindert. In Summe kann das Bürgergeld auf diesem Weg um maximal 30 Prozent des Regelbedarfes gemindert werden.
In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht jedoch auch einen vollständigen Wegfall der Leistungen in bestimmten Fallkonstellation als möglich erachtet. Diese Möglichkeit soll - im Einklang mit den Rahmenbedingungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aufgestellt hat - mit der Regelung zum Entzug des Regelbedarfes bei willentlicher Arbeitsverweigerung nun gesetzlich umgesetzt werden.
Wer sich bewusst und grundlos weigert, eine konkret angebotene, zumutbare Arbeit aufzunehmen und der vorher (innerhalb des letzten Jahres) bereits gegen eine Pflicht zur Aufnahme einer Arbeit verstoßen oder sein Arbeitsverhältnis grundlos gekündigt hat, dem kann künftig für die Dauer von bis zu zwei Monaten der Regelbedarf entzogen werden. Die Regelung betrifft damit folglich nur Personen, die konkret und im zumutbaren Umfang arbeiten könnten, dies aber zu Lasten der Allgemeinheit nicht tun.
Zudem finden die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Elemente der Verhältnismäßigkeit auch im Falle des vollständigen Entzugs des Regelbedarfes Anwendung. Nimmt der Leistungsberechtigte das Angebot doch an, entfällt auch der Entzug des Regelbedarfes (nachträgliche Mitwirkung). Gleiches gilt, wenn das konkrete Arbeitsangebot wegfällt. Auch in diesem Fall ist der Entzug des Regelbedarfes aufzuheben.
Die betroffene Person ist vor dem Wegfall des Regelbedarfs zudem immer anzuhören, auf Wunsch auch im Wege einer persönlichen Besprechung. Soweit der Wegfall der Leistungen zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde, dürfen die Leistungen nicht gemindert werden. Ebenso ist zu prüfen, ob die Leistungsberechtigten einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.
Darüber hinaus dürfen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden, die Wohn- und Heizkosten nicht gekürzt werden. Gleiches gilt für Mehrbedarfe beispielsweise wegen Schwangerschaft.
Mit freundlichen Grüßen
Hubertus Heil, MdB