Frage an Heribert Hirte von Ralf P. bezüglich Bundestag
Sehr geehrter Herr Hirte,
als Dozent an der FH für Rechtspflege in NRW verweise ich im Fach Staatsrecht darauf, dass die BRD zurzeit das weltweit zweitgrößte Parlament hat. Selbstverständlich behandeln wir das Zustandekommen der vielen Überhang- und Ausgleichsmandate im Rahmen des Wahlrechts. Die Fragen meiner Studierenden, wann die notwendige Änderung dieser die Arbeit des Parlaments inzwischen einschränkenden Bedingungen und die notwendige Reduzierung der hohen Kosten für die Steuerzahler angegangen wird, kann ich nur noch mit einem Schulterzucken beantworten. Nach Vorschlägen aus verschiedenen Parteien scheint eine Einigung aus parteitaktischen Gründen, aus persönlichen Gründen einzelner Abgeordneter, etc. nicht in Sicht. Und in Zeiten von Corona kommt das Argument, dass andere Dinge wichtiger sind, anscheinend gerade recht. Ich befürchte jedoch, dass ein Hinauszögern der Problemlösung das Verständnis für die Parteien und damit die Demokratie schwächt.
Wie stehen Sie zu diesen Fragen?
Mit freundlichen Grüßen
R. P.
Sehr geehrter Herr Pannen,
vielen Dank für Ihre Zuschrift. Die von Ihnen angesprochen Wahlrechtsreform ist von erheblicher Bedeutung für unsere parlamentarische Demokratie, da durch sie unmittelbar in das System der Repräsentation eingegriffen wird. Es wäre doch im Gegenzug äußerst irritierend, wenn über eine solch wichtige Frage kein Meinungswettbewerb stattfinden würde. Aber ich bin ganz bei Ihnen, es braucht eine langfristige Lösung.
Ich wünsche mir hier ebenso wie Sie eine Entscheidung, die bereits für die nächste Bundestagswahl greifen würde. Leider konnte durch die Arbeit der Arbeitsgruppe „Wahlrechtsreform“ keine Einigung erzielt werden. Ob dies noch durch eine Übereinkunft der Fraktionen im Deutschen Bundestag ermöglicht werden kann, bleibt abzuwarten. Nichtsdestotrotz belegen die intensive Arbeit der Arbeitsgruppe und die zahlreichen Wortbeiträge aus der Unionsfraktion wie auch aus anderen Parteien, dass sich um Ideen und eine Lösung bemüht wird. Ein Interesse zur Lösung von Problemen in Abrede zu stellen, gehört zwar zur alltäglichen politischen Auseinandersetzung, scheint mir hier teilweise aber die Grenze zur Redlichkeit zu überschreiten.
Als Dozent sind Sie ja selbst mit der Problematik detailliert vertraut. Die Herausforderung ist komplex. Aktuell sollen wir meines Erachtens nach über einen Vorschlag nachdenken, der etwa die Einführung einer „Obergrenze“ für einen Ausgleichsmechanismus vorsieht. Denkbar wäre es aber auch, den Korridor, den das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Ausgleichs von Überhangmandaten gelassen hat, auszuschöpfen und den Ausgleich von Überhangmandaten etwa erst ab dem 16. Überhangmandat zu beginnen. Damit ließe sich ebenfalls eine Dämpfung des Aufwuchses erzielen, ohne dass in die Wahlkreisstruktur eingegriffen werden müsste. Rechtlich mögliche wäre auch eine gänzliche Entkoppelung der beiden Stimmen voneinander („Graben-Wahlrecht), ob aber sich eine parlamentarische Mehrheit für einen gänzlichen Systemwechsel herstellen lassen würde, wage ich auch wiederum zu bezweifeln. Und das ist der entscheidende Punkt: Wie oft in der Politik mangelt es nicht an guten Ideen, sondern an der erforderlichen Mehrheit für eine bestimmte Idee. Und da es bei jeder der Ideen Gewinner und Verlierer gibt, ist die Lösung nicht so einfach wie sie scheint – auch wenn sich über das Ziel, aber nur darüber, die meisten einig sind. Allerdings gerade an Sie als Staatsrechtler sei die Frage erlaubt: Wieso sollte eigentlich ein größeres Parlament seine zentrale Aufgabe – Überwachung der Regierung – schlechter erfüllen können als ein kleineres?
Ich darf meine Grüße auch an Ihre Studierenden der FH für Rechtspflege in NRW richten. Sofern bei Ihnen Interesse bestünde, biete ich sehr gerne an, Sie für eine Fragestunde oder auch ein kurzes Gastseminar zu besuchen.
Mit freundlichen Grüßen
Heribert Hirte