Frage an Heribert Hirte von Wilfried M. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Prof.Dr. iur. Hirte,
in der Zusammenfassung eines 2015 publizierten Artikels von BGH-Richter Prof. Moosbacher ("Das Ideal richterlicher Wahrheitsfindung und die Betrübnisse des wirklichen Lebens") heisst es:
"In der Würdigung der Beweise ist der Richter aber weitgehend frei. Obwohl eine Vielzahl von Vorkehrungen dagegen getroffen wird, gibt es immer wieder Fehlurteile im Strafverfahren. Ursache hierfür ist neben der Unvollkommenheit menschlicher Entscheidungsfindung insbesondere die Fehleranfälligkeit personaler Beweismittel (Zeugen, Sachverständige, Angeklagte).
Durch die Art des Rechtsmittelsystems und den Verzicht auf Beweisregeln nimmt die Gesellschaft die vermeidbare Entstehung von Fehlurteilen in gewissem Umfang in Kauf." (1)
Hierzu meine Frage:
Was spräche Ihrer fachlichen Einschätzung -als Hochschullehrer- zufolge dagegen, sich für Gesetzesänderungen
1. mit dem Ziel der (Wieder-) Einsetzung von klaren Beweisregeln, an die sich Richter halten müssen und
2. mit dem Ziel der Einführung einer Duldungspflicht für die komplette audioviuelle Dokumentation des Explorationsgespräches (Psychiatrie bzw. Psychologie) auf Wunsch des Probanden einzusetzen?
Wem nützte es denn Ihrer Meinung nach, wenn weiterhin "die Gesellschaft die vermeidbare Entstehung von Fehlurteilen in gewissem Umfang in Kauf" nähme?
Und von welcher-VERMEIDBARE FEHLURTEILE IN KAUF NEHMENDEN (sic!)- "Gesellschaft" ist da konkret die Rede?
Ich bitte um vollständige und wahrheitsgemäße Antworten.
Mit freundlichen Grüßen
Dipl. med. W. M.
Facharzt für Anatomie, Psychiatrie und Psychotherapie a.D.
1. Vorsitzender von Anti-Korruption . Reformation 2014 e.V.
Sehr geehrter Herr Meißner,
vielen Dank für Ihre Email, die Sie ebenfalls telefonisch angekündigt hatten. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie so lange auf eine Antwort warten mussten. Da mich täglich hunderte Emails erreichen, benötigen Antworten, die auch erhebliche juristische Vorarbeit erforderlich machen, etwas länger. Da Sie aber ja auch selbst - wenn auch nicht in einer Partei - politisch aktiv sind, wie ich auf Abgeordnetenwatch ersehen konnte, haben Sie sicherlich eine Vorstellung davon.
Der von Ihnen angesprochene Artikel von Professor Moosbacher (https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-015-0309-4) stellt die Problematik sehr ausgewogen und differenziert dar. Vor allem fasst er sehr gut zusammen, welche umfassenden Möglichkeiten unser Rechtsstaat bietet, um potenzielle Fehlurteile zu vermeiden. Auch wenn ich seine Schlüsse nicht unbedingt teile, regt sein Aufsatz doch die spannende Debatte dieses Themas an.
Doch um auf Ihre Fragen zu kommen: Zwar gilt für den zuständigen Richter der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, diese ist jedoch stark reglementiert. Der BGH hat ein Mindestmaß von Anforderungen an den Überzeugungsakt selbst und an die Darlegung der Überzeugungsbildung in den schriftlichen Urteilsgründen formuliert: „Zwar darf und muss der Tatrichter jedes Beweismittel … frei würdigen, er ist an bestimmte Beweisregeln oder sonstige Richtlinien nicht gebunden. Seine Schlussfolgerungen tatsächlicher Art brauchen auch nicht zwingend zu sein; es genügt grundsätzlich, dass sie möglich sind und er von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Der Richter muss aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Erfahrungssätze des täglichen Lebens und die Gesetze der Logik beachten. Um dem Revisionsgericht diese Nachprüfung zu ermöglichen, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag.“ In bestimmten Konstellationen wie etwa bei Aussage gegen Aussage verlangt die Rechtsprechung auch eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung.
Jenseits des Spannungsverhältnisses zwischen dem im Kern höchstpersönlichen Überzeugungsakt im Rahmen „freier“ Beweiswürdigung und den Anforderungen an eine intersubjektiv vermittelbare Begründung der Beweiswürdigung auf rationaler Grundlage gibt es eine Reihe von gesetzlichen Rahmenbedingungen, die eine falsche Entscheidung zulasten des Angeklagten verhindern sollen. Dazu zählt der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" ebenso wie die Filterfunktion der Arbeit der Staatsanwaltschaft und der strafrechtlich verankerte Schutz von Angeklagten vor falschen Aussagen. Eines der wichtigsten Mittel, um Fehlentscheidungen zu verhindern, ist die Überprüfung eines Urteils in der Rechtsmittelinstanz.
Ungeachtet dessen muss sich die Strafjustiz natürlich im derzeitigen rechtlichen Rahmen stets bemühen, das Risiko von Fehlurteilen so gering wie möglich zu halten. Insgesamt bin ich aber davon überzeugt, dass es hier im Allgemeinen keine weitreichenden Änderung aktuell notwendig ist. Auch wenn es - meines Wissens nach - keine empirischen Analysen über mögliche Fehlentscheidungen gibt, bin ich davon überzeugt, dass der Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland weltweit einer der besten und gerechtesten ist. Nicht ohne Grund können wir in ihn vertrauen und werden um ihn in vielen Ländern beneidet.
Damit denke ich, dass ich Ihre erste Frage umfassend beantwortet habe.
Bezüglich Ihrer zweiten Frage ließe sich eine audiovisuelle Dokumentation diskutieren. Allerdings sollte sie nur die schon bisher vorhandene schriftliche Dokumentation ergänzen, nicht ersetzen - schon allein zur Datensicherung.
Ihre letzte Frage danach, "wem nützte es denn Ihrer Meinung nach, wenn weiterhin "die Gesellschaft die vermeidbare Entstehung von Fehlurteilen in gewissem Umfang in Kauf" nähme?" kann ich nicht beantworten. Sie scheinen sich hier auf den Text von Herrn Moosbacher zu beziehen und implizieren scheinbar, dass die Gesellschaft und der Staat Fehlurteile einfach in Kauf nehmen - dies schreibt Moosbacher explizit nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Heribert Hirte