Frage an Heribert Hirte von Guido F. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrter Prof. Dr. Hirte,
wie stehen Sie zu der Aussage: "Vollbeschäftigung ist besser als Gerechtigkeit", die CDU-Generalsekretär Peter Tauber vor gut zwei Monaten via Twitter verbreitete? (1)
Halten Sie Vollbeschäftigung in Zeiten der Industrie 4.0 (2), in der eine zunehmende Digitalisierung und Automatisierung eine enorme Produktivitätssteigerung bewirken und menschliche Arbeitskraft zunehmend ersetzen wird, noch für möglich, und ist Vollbeschäftigung dann überhaupt noch nötig?
Im Stahlwerk des österreichischen Produzenten Voestalpine in der Steiermark werden beispielsweise für eine Jahresproduktion von 500.000 Tonnen nur 14 Mitarbeiter benötigt (3). Sollte es angesichts solcher Möglichkeiten nicht viel mehr politisches Ziel sein, die Lebensarbeitszeit jedes einzelnen Bundesbürgers zu senken und gleichzeitig eine bessere Verteilung des Volkseinkommens zu erreichen?
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die enormen Gehälter deutscher Vorstandsvorsitzender, die im Durchschnitt das 93-fache eines normalen Beschäftigteneinkommens des jeweiligen Unternehmens betragen und beim Spitzenreiter sogar das 190-fache davon erreicht? (4)
Ist es Ihres Erachtens möglich, dass ein einzelner Vorstandsvorsitzender in einem einzigen Jahr so viel leistet, wie zwei bzw. vier normale Angestellte in ihrem gesamten Berufsleben?
Schon die heutigen Voraussetzungen werden dazu führen, dass ab 2030 über 40 Prozent der Bundesbürger von Altersarmut bedroht sind (5). Wie wollen Sie und Ihre Partei also in Zukunft gewährleisten, dass die Gesamtbevölkerung, trotz sinkender Lohnquote und steigender Unternehmergewinne durch die Industriealisierung 4.0, angemessen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beteiligt wird?
Quellen:
1) https://goo.gl/YSdvrp
2) https://goo.gl/hHNYoX
3) https://goo.gl/fiJp3N
4) https://goo.gl/dZ4F3m
5) https://goo.gl/apFa8S
Sehr geehrter Herr F.,
herzlichen Dank für Ihre Zuschrift und Ihr Interesse an meiner Person, welche Sie mit Ihren regelmäßigen Fragen über abgeordnetenwatch.de dokumentieren.
Gerechtigkeit ist ein großes Wort - wie Ihnen sicher bewusst ist. Es ist vor allem ein Wort, das für jeden Menschen eine andere Bedeutung hat, das gerade nicht allgemeingültig definiert ist. Einig ist man sich wohl nur, dass Gleichheit nicht notwendigerweise gerecht ist. Zudem gibt es ganz viele Arten der Gerechtigkeit: Leistungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit.... Insofern möchte ich dieses Wort gerne weiter den Philosophen überlassen, die sich schon seit Jahrtausenden dem Thema widmen und bis heute zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen sind.
Vergütung ist aber zunächst einmal für mich keine Frage von Gerechtigkeit sondern von Marktmechanismen. Dabei sollte man aber - schon aus ethischen Gründen - ein gewisses Maß halten, wohlwissend, dass Menschen ihre eigene Vergütung, ihre eigene Wertschätzung, ihren eigenen Lebensstandard auch relativ, d.h. im Vergleich zu anderen, bewerten. Wenn aber die Unternehmenseigner, sprich z.B. Aktionäre entscheiden, einen Teil ihres Vermögens bzw. Einkommens für sehr hohe Vorstandsvergütungen zu verwenden, dann halte ich dies für deren gutes Recht. Insofern trete ich dafür ein, dass nicht mehr der Aufsichtsrat über die Vorstandsvergütung entscheiden sollte, sondern bei Aktiengesellschaften die Hauptversammlung der Aktionäre. Generell glaube ich übrigens auch nicht, dass geringere Vorstandsvergütungen zu höheren Löhnen führen würden - eher zu höheren Dividenden für die Aktionäre.
Ich halte auch eine Vollbeschäftigung, d.h. eine Beschäftigung aller Menschen, die gerne arbeiten möchten, weiter für möglich und nötig. Auch wenn eine Verlagerung der Arbeitsverhältnisse, wie schon immer in der Vergangenheit, stattfinden wird, so wird es immer Aufgaben für alle Menschen geben. So sehen wir, dass der Bedarf in der Pflege und im IT-Bereich massiv ansteigt, während andere Jobs sicher zurückgehen werden. Dabei halte ich eine Tätigkeit des Menschen, die auch für jemanden anderen sinnvoll ist und von anderen in Geld gewertschätzt wird, für wichtig und richtig. Ohne eigene "Leistung" an der Gesellschaft teilzunehmen, halte ich auf Dauer nicht für erfüllend - und staatliche Leistungen, also Leistungen aller anderen Bürgerinnen und Bürger, für Menschen auszugeben, die leistungsfähig sind, aber diese Leistung nicht erbringen, auch nicht für sozialverträglich.
Zudem bin ich der Ansicht, dass wir künstlich keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schaffen sollten. Wenn eine entsprechende Produktionsleistung mit einem geringen Personaleinsatz möglich ist, schafft dies Kapazitäten für andere Tätigkeiten. Wenn man den von Ihnen suggerierten Ansatz weiterdenkt, müsste man auch Kopierer abschaffen und z.B. die entsprechenden Dokumente abtippen lassen (die Idee ließe sich dabei natürlich immer weiter ins Groteske spinnen). Dies kann nicht richtig sein und würde auch nicht zur Steigerung der Lebensqualität und der Konsummöglichkeiten der Bevölkerung beitragen.
Eine Senkung der Lebensarbeitszeit angesichts des aktuellen Bedarfs an Arbeitskräften und dem Wunsch der Bevölkerung nach weiterer Steigerung des Konsums und des Lebensstandards sehe ich auch nicht als sinnvoll an. In diesem Zusammenhang sehe ich auch Ihre Frage nach der Altersarmut und Beteiligung an der Wertschöpfung: Letztlich sehe ich eine Lösung darin, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute (unter Konsumverzicht) Geld zurücklegen, selbst über Aktienfonds zu Anteilseignern werden und so an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung über ihr eigenes Gehalt hinaus beteiligt werden.
Ihr
Heribert Hirte