Frage an Helmut Scholz von Anna S. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Sehr geehrter Herr Scholz,
Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union ein Meilenstein der Humanität ist und wir mit ihrer Hilfe in der Lage sind, gemeinsam die großen Aufgaben unserer Zeit zu bewältigen. In diesem Sinne möchte ich zwei konkrete Fragen an Sie richten und würde mich freuen, wenn Sie sich die Zeit nehmen, sie zu beantworten.
1. Sie sind Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel. Der internationale Handel trägt mit der Schifffahrt und dem Transport durch LKWs enorm zum Ausstoß von Kohlenstoffdioxid bei. Viele Schiffsfahrten ließen sich vermeiden, wenn die einzelnen Produktionsschritte nicht so verstreut stattfinden würden. Auch wird der Güterverkehr auf den Schienen aktuell leider noch weiter abgebaut.
Was wollen Sie persönlich dazu beitragen, dass Transportwege kürzer werden und sich der Güterverkehr wieder auf die Schienen verlagert? Welche Maßnahmen halten Sie für sinnvoll?
2. Sie sind Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen. Aktuell gibt es zwar ein EU-Parlament, letztlich ist die EU aber hauptsächlich eine Verhandlungsplattform der einzelnen nationalen Regierungen. Eine deutliche Erhöhung ihrer gesetzgeberischen Kompetenzen ist schwer vorstellbar und aktuell meiner Meinung nach auch nicht wünschenswert, da dazu das Parlament wirklich ein "europäisches Volk" vertreten müsste und jede Stimme das gleiche Geweicht besitzen müsste.
Was ist Ihre Vorstellung einer "neuen EU"? Welche konstitutionellen Reformen könnten Sie sich vorstellen, die die "Europäische Idee" weiterentwickeln?
Vielen Dank!
Mit freundlichen Grüßen,
Anna Schmitt
Sehr geehrte Frau Schmitt,
Vielen Dank für Ihre Fragen. Ich freue mich über Ihre positive Einstellung zu den Möglichkeiten, die wir mit unserer Europäischen Union erreichen könnten.
Zu 1.)
Sie haben völlig Recht, dass die Transporte zur See und auf den Straßen ein Ausmaß erreicht haben, dass für unser Klima nicht weiter tragfähig ist. Zwar konnten wir politisch bereits erreichen, dass moderne Schiffe mit Antrieben ausgerüstet sein müssen, die erheblich geringeren Schadstoffausstoß verursachen. Dennoch bleiben die Transportkosten so gering, dass sie es ermöglichen, geografisch weit voneinander entfernte Zulieferbetriebe in Preiskonkurrenz zu setzen, so Kosten zu drücken und Profite zu maximieren. Dieses Profitstreben wurde bislang von parlamentarischen Mehrheiten gestützt, auf Ebene der Mitgliedstaaten sogar oft noch stärker als auf der Europäischen Ebene. Vielleicht bedeutet die aktuelle Krise jedoch auch eine Chance, um für Ihr Überlegungen, die ich teile, mehr Gehör zu finden. Es wurde deutlich, dass ausbordende Lieferketten auch eine erhöhte Verwundbarkeit der Produktion bedeuten. Regionale und lokale Wirtschafts- und Handelsräume sollten aus meiner Sicht daher künftig in den verschiedenen Regionen der Welt vorrangig gefördert werden.
Zu 2.)
Die aktuelle Corona-Krise zeigt deutlich, dass wir strukturelle Lösungen brauchen, die es der Europäischen Union ermöglichen, schnell zu handeln und ihre eigenen Ressourcen schnell mobilisieren zu können, wenn sie für europäische Maßnahmen oder zur Krisenbewältigung benötigt werden. Wir müssen die Europäische Union umgestalten, damit sie über Mittel und Befugnisse verfügt, um künftigen Krisen standzuhalten. Durch die gemeinsame Währung ist die Fähigkeit der Staaten, unterschiedlich zu agieren, stark eingeschränkt. Ich bin daher überzeugt, dass es an der Zeit ist, eine echte politische Union anzustreben und die Tabus zu brechen, die die weitere europäische Integration im letzten Jahrzehnt blockiert haben. Dazu braucht das Europäische Parlament wie Sie richtig sagen definitiv stärkere gesetzgeberische Kompetenzen. Konkret arbeitet der AFCO-Ausschuss unter anderem an dem legislativen Initiativrecht des Europäischen Parlaments, an einer Bestandsaufnahme der Europawahlen inklusive transnationaler Listen und dem Spitzenkandidatenprinzip und der Wiederbelebung des Projektes einer Konferenz über die Zukunft Europas. Diese Konferenz soll über einen Zeitraum von zwei Jahren Bürgerinnen und Bürgern mit unterschiedlichem Hintergrund, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Interessenvertreter*innen auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene die Festlegung der Prioritäten der EU ermöglichen.
Wünschenswert wäre meiner Meinung nach eine Änderung der EU-Verträge in Richtung eines föderalen Europas mit finanzieller Autonomie und die Einrichtung eines ständigen Bürgerbeteiligungsmechanismus.
Mit freundlichen Grüßen,
Helmut Scholz