Frage an Heiner von Marschall von Taina G. bezüglich Verkehr
Lieber Heiner von Marschall,
seit Kurzem bin ich aus finanziellen Gründen komplett auf´s Fahrrad umgestiegen. Dabei ist mir in Reinickendorf folgendes aufgefallen: Fahrradwege, die eigentlich relativ neu wirken, enden oftmals 50 Meter vor den Kreuzungen, was mich schon in brenzlige Situationen gebracht hat. Ich empfinde das als sehr gefährlich und unübersichtlich aus Sicht der Autofahrer. Wer hat sich denn diese irre Planung einfallen lassen? So sind ältere Menschen und Familien kaum zu bewegen, auf´s Fahrrad umzusteigen, und wer sich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht leisten kann, riskiert Leben und Gesundheit. Gibt es Mittel, um diese Fehlplanung zu korrigieren? Wie sähe denn das "Grüne Fahrradkonzept" für Reinickendorf aus?
Mit freundlichen Grüßen,
T. Gärtner
Sehr geehrte Frau Gärtner,
herzlichen Dank für Ihre Frage, die mir auch als Vater zweier Fahrrad fahrender Kinder (10 u. 11 J. alt), die täglich auf dem Schulweg den halben Bezirk durchqueren, ganz persönlich am Herzen liegt.
In der Tat müssen wir viel mehr für den Fahrradverkehr tun. Hier in Reinickendorf werben die tonangebenden Parteien (CDU+FDP) damit, 8,184 km mehr Radwege gebaut zu haben. Das mag richtig sein, nur leider wurden bei dem Bemühen um eine hohe Kilometerleistung die eigentlichen Gefahrenpunkte, z.B. Kreuzungen oder Brückenunterquerungen, geflissentlich ausgelassen, immer nach dem Motto "Bloß keinem Autofahrer weh tun". Vermutlich aus dem gleichen Grund wurden die Fahrradwege in der Regel auf die Bürgersteige gelegt, im Widerspruch zu allen bundesweit gültigen Normen und Empfehlungen sowie den Erkenntnissen der Unfallforschung.
Es ist zu begrüßen, dass das Land Berlin ein allgemeines Fahrradkonzept beschlossen hat, das aber auch in den Bezirken ergänzt und weiterentwickelt werden muss. Dazu sollten die Fachverbände (z.B. ADFC und VCD) von Anfang an in die Planung einbezogen werden, aber auch andere Betroffene wie z.B. Elternvertretungen, um die spezifischen Bedürfnisse schwächerer Verkehrsteilnehmer wie Kinder oder ältere Menschen zu berücksichtigen.
Im Grunde brauchen wir zwei parallele Radverkehrsnetze:
1. Mehrzweckstreifen auf den Hauptverkehrsachsen für den bezirksübergreifenden Verkehr der passionierten (und schnellen) Vielfahrer
2. Ein paralleles möglichst autofreies durchgehendes Radwegenetz in ruhigeren Parallelstraßen und Grünanlagen, um die einzelnen Kieze für alle RadfahrerInnen, insbesondere auch Kinder und ältere Menschen besser zu erschließen und zu vernetzen.
Dazu sind die bundesweit gültigen Normen und Empfehlungen (ERA 95) zu beachten!
Folgende Kriterien sind mir wichtig:
1. Radwege gehören nicht auf den Bürgersteig, sondern gut markiert auf die Fahrbahn, um die Sicherheit zu erhöhen. Das ist übrigens auch billiger. Radwege auf dem Bürgersteig sind Gefahrenquellen, z.B. durch aufgehende Autotüren (Beifahrer haben keinen Rückspiegel und sind auch (noch) weniger gewohnt sich umzublicken). Aus Sicht der Autofahrer sind Radfahrer an Kreuzungen und Einmündungen hinter parkenden Autos schlechter sichtbar und werden nicht wahrgenommen. Mit gut markierten Radwegen auf der Fahrbahn ist diese Gefahr ganz wesentlich geringer.
2. Radwege brauchen eine Mindestbreite für ausreichenden Abstand zum fließenden wie ruhenden Verkehr (Autotüren).
3. Gerade unter Brücken, wo Radfahrer besonders schlecht sichtbar sind, müssen die Lücken in den Radwegen geschlossen werden. Es macht doch keinen Sinn, gerade hier auf die ohnehin verengten Bürgersteige auszuweichen. Dann müssen eben die Fahrbahnen verengt oder Parkverbote erweitert werden, um Platz für sichere Radwege auf der Fahrbahn zu schaffen.
4. Damit sind wir beim Thema Vorrangigkeit. Fahrradverkehr ist, anders als motorisierter Individualverkehr (MIV), umwelt- und menschenfreundlich und daher gesellschaftlich erwünscht. Dieser Vorrang muss sich in den Köpfen verankern und bei allen konkreten Planungen sichtbar sein. Ganz einfach und billig wäre z.B. die Ampelschaltungen fahrradfreundlich zu verändern.
5. Zur Sichtbarkeit und zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses gehört auch eine sichtbare Ausschilderung der Fahhradrouten mit Richtungsweisern entsprechend der gültigen Standards. Auch Ortsfremde müssen ohne Spezialkarten ortsteilübergreifende Verbindungen finden können. Und vor allem muss das Vorhandensein eines leistungsfähigen Radverkehrsnetzes für andere Verkehrsteilnehmer sichtbar sein. Das erhöht auch die Sicherheit. Nicht umsonst orientieren sich die bundesweit gültigen Empfehlungen für Richtungsweiser für den Fahrradverkehr an den Schildergrößen der Richtungsweiser für Kfz.
Ich will mich auf diese Bemerkungen beschränken.
Jedenfalls bemißt sich die Fahrradfreundlichkeit einer Stadt oder eines Bezirks nicht nur an der Kilometerleistung des Radwegebaues.
Es geht vielmehr um Durchgängigkeit der Routen, Lückenschlüsse und Qualität, Attraktivität und Sichtbarkeit der Radverkehrsnetze.
In Reinickendorf wollen wir Grünen 10% der jährlich zu Verfügung stehenden Mittel für den Tiefbaubereich in die Verbesserung der Fahrradinfrastruktur investieren.
Für Berlin streben wir an, den Radverkehrsanteil auf 20% zu verdoppeln und die Mittel für den Radverkehr von jährlich 5 auf 10 Mio. € zu erhöhen.
Als gesellschaftlich erwünschtes Verkehrsmittel, gerade in städtischen Gesellschaften mit ihren Emissions- und Platzproblemen, geht es vor allem darum, den Fahrradverkehr wirklich vorrangig zu behandeln.
Da gibt es noch viel zu tun: auf den Straßen und in den Köpfen.
Mit herzlichem Dank und freundlichen Grüßen
heiner v. marschall