Frage an Harald Weinberg von Harald K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Weinberg,
ich gehe davon aus, daß Sie als Bundestagsabgeordneter und Linken Politiker voll und ganz auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Es sollte daher für Sie problemlos möglich sein, meine ursprünglich an Ihren MdB Kollegen Herrn Auernhammer gerichtete Frage zu beantworten.
In den Jahren 2015, 2016 und 2017 reisten nach unterschiedlichen Schätzungen 1,5 bis 2 Millionen sogenannte Flüchtlinge aus Afrika und Asien, überwiegend über die Österreichische Grenze, d.h. aus einem EU-Mitgliedsstaat, nach Deutschland ein und beantragten in der Mehrzahl politisches Asyl. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert im Artikel 16a Absatz 1 (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_16a.html) „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Absatz 2 lautet: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat ...“.
Bitte erläutern Sie weshalb die gesamte politische Klasse dieses Landes, insbesondere Bundeskanzlerin Merkel und die Regierung inklusive der CSU-Minister bis heute vollkommen folgenlos grundgesetzwidrig handeln können und auch die Medien Ihrer Meinung nach diesen Umstand nicht thematisierten?
Mit freundlichen Grüßen
H. K.
Ansbach
Sehr geehrter Herr K.,
ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich an dieser Stelle nicht in eine komplexe juristische Debatte zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage einsteigen kann. Denn um eine komplizierte Sache kurz zu machen: Ich kenne die rechtliche Argumentation vor allem konservativer Juristen, die unter Berufung auf die von Ihnen vorgebrachten Artikel die Politik der Bundesregierung in Bezug auf die Aufnahme Geflüchteter insbesondere im Herbst 2015 kritisieren. Aus meiner Sicht ist diese Argumentation aber nicht überzeugend.
Die besseren Gründe sprechen m.E. gegen eine solche Sicht, und in juristischen Abhandlungen wurden diese auch bereits vorgetragen (vgl. nur: https://verfassungsblog.de/dem-freistaat-zum-gefallen-ueber-udo-di-fabios-gutachten-zur-staatsrechtlichen-beurteilung-der-fluechtlingskrise/; https://verfassungsblog.de/grenze-zu-dank-art-20-abs-4-dublin-iii-vo-eine-replik/).
Ausschlaggebend ist, dass EU-Recht das nationale Asylrecht seit längerem überlagert (siehe schon §18 Absatz 4 AsylG), die Zuständigkeit zur Asylprüfung ergibt sich aus der Dublin-Verordnung (ebenso die Möglichkeit für Deutschland, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Gründen für zuständig zu erklären, Stichwort Selbsteintrittsrecht). Grenzkontrollen innerhalb der EU sind dem Grunde nach abgeschafft (bis auf Ausnahmen), d.h. eine nationale Regelung, die regelmäßige Zurückweisungen an den Binnengrenzen vorsähe, wäre mit übergeordnetem EU-Recht schwerlich vereinbar – davon abgesehen, dass sie praktisch gar nicht durchsetzbar wäre, weil die Binnengrenzen hermetisch überwacht und grenztechnisch abgesichert werden müssten – was ein Ende der Reisefreiheit innerhalb der EU bedeutete.
Dass die zeitweise Inanspruchnahme des Selbsteintrittsrechts der Dublin-Verordnung gegenüber syrischen Flüchtlingen durch Deutschland vom EU-Recht gedeckt war – bzw. angesichts der ansonsten drohenden Überforderung der Durchreiseländer im Geiste der Solidarität der EU-Staaten untereinander geradezu geboten war – hat der Europäische Gerichtshof zwischenzeitlich eindeutig klargestellt: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017-07/cp170086de.pdf
Sie deuten mit Ihrer Frage zwar genau Gegenteiliges an, aber in der Pressemitteilung zum Urteil (wie im Urteil selbst) heißt es eindeutig und klar: „Der Gerichtshof hebt ebenfalls hervor, dass die Aufnahme dieser Drittstaatsangehörigen dadurch erleichtert werden kann, dass andere Mitgliedstaaten, einseitig oder in abgestimmter Weise im Geist der Solidarität, von der „Eintrittsklausel“ Gebrauch machen, die es ihnen gestattet, bei ihnen gestellte Anträge auf internationalen Schutz auch dann zu prüfen, wenn sie nach den in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind. Schließlich weist er darauf hin, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn infolge der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger die Überstellung für sie mit der tatsächlichen Gefahr verbunden ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.“
Abgeordnete meiner Fraktion haben den Wissenschaftlichen Dienst (WD) des Bundestages schon im Jahr 2015 mit der Klärung der rechtlichen Fragen (un-)möglicher Grenzabweisungen Schutzsuchender an den EU-Binnengrenzen beauftragt. Das Ergebnis ist aber nicht (!), dass die Bundesregierung Rechtsverstöße begangen habe, und auch nicht, dass der Bundestag mit diesen Fragen hätte befasst werden müssen. Der WD hat vielmehr lediglich die vorliegenden unterschiedlichen juristischen Einschätzungen und Aufsätze zu diesem Thema zusammengefasst und gegenübergestellt, ohne Position zu beziehen, und zugleich betont, dass es insbesondere wegen der Neuartigkeit und Einzigartigkeit der historischen Sondersituation keine gefestigte Rechtsprechung zu diesen Fragen gibt. Der WD hat zudem ausdrücklich erklärt, die Frage der Beteiligung des Bundestages stelle sich schon gar nicht, wenn man der Rechtsauffassung folgt (die dargelegt wurde), dass eine Zurückweisung Schutzsuchender gegen EU-Recht verstößt (Fußnote 17 im aktuellsten Gutachten). Der WD hat in der Tat kritisch angemerkt, dass die Bundesregierung auf parlamentarische Fragen zu den Rechtsgrundlagen der damaligen Entscheidungen wenig präzise und ausweichend geantwortet hat – das hat meine Fraktion bereits vor Jahren beklagt, und dieses Problem haben wir leider nicht nur bei Fragen zu speziell diesem Thema.
Meine Fraktionskollegin Ulla Jelpke, die Ende 2015 zwei WD-Gutachten zum Thema in Auftrag gegeben hatte, zog vor dem Hintergrund der Gutachten des WD einen genau gegenteiligen Schluss wie Sie, nämlich dass Schutzsuchende an den deutschen EU-Binnengrenzen wegen des Vorrangs des EU-Rechts nicht zurückgewiesen werden dürfen:
http://www.ulla-jelpke.de/2016/01/inhumane-zurueckweisungspraxis-stoppen/
Das Grundrecht auf Asyl ist eine zentrale Lehre aus der Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft und Verfolgung in Deutschland – auch wenn geschichtsvergessene Politikerinnen und Politiker dieses Grundrecht im Jahr 1993 massiv beschnitten haben, unter anderem mit der von Ihnen in Bezug genommenen sicheren Drittstaatenregelung. Die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union, in europäisches und internationales Recht ist ebenso grundlegendes Verfassungsrecht, auch wenn wir als LINKE eine vielfältige und breite Kritik an der konkreten Politik der Europäischen Union haben.
Mit Ihrem Beitrag suggerieren Sie eine fortlaufende „Grenzöffnung“ – die es so nie gegeben hat! Wie bereits dargelegt leben wir schon lange in einem gemeinsamen Binnenraum der EU, der keine Grenzkontrollen kennt und diese vielmehr sogar ausdrücklich (bis auf Ausnahmen) verbietet! Die Bundesregierung hat in einer historischen Ausnahmesituation erklärt, die Asylprüfung im Falle syrischer Flüchtlinge zu übernehmen – wozu sie berechtigt (siehe EuGH-Urteil oben) und aus meiner Sicht humanitär und menschenrechtlich auch verpflichtet war. Alle Fraktionen im Bundestag habe die damalige Entscheidung der Bundeskanzlerin angesichts der dramatischen Ereignisse in Ungarn begrüßt. Allerdings hat die Bundesregierung nur kurz später umgeschwenkt und als erstes Land in der EU – befristete – Binnengrenzkontrollen eingeführt. Man müsste also vielmehr von einer Politik der Grenzschließung, und nicht der Grenzöffnung reden!
Obwohl systematische EU-Binnengrenzkontrollen nur unter engen Bedingungen erlaubt sind, hat Deutschland diese – unter Missachtung des EU-Rechts, aber mit (notgedrungener, halbherziger, wenig überzeugender) Unterstützung der EU-Kommission – bis heute fortgeführt.
Mit freundlichen Grüßen
Harald Weinberg
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: antworten@abgeordnetenwatch.de [mailto:antworten@abgeordnetenwatch.de]
Gesendet: Mittwoch, 17. Januar 2018 20:45
An: Weinberg Harald >
Betreff: Eine Frage an Sie vom 17.01.2018 20:34:00 (#296288)
Sehr geehrte(r) Harald Weinberg,
H. K. aus Ansbach hat Ihnen als Besucher/in der Seite www.abgeordnetenwatch.de eine Frage zum Thema Demokratie und Bürgerrechte gestellt.
Um diese Frage zu beantworten, schicken Sie diese Mail mit Ihrem eingefügten Antworttext an uns zurück (als wenn Sie eine normale E-Mail beantworten würden).
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Sehr geehrter Herr Weinberg,
ich gehe davon aus, daß Sie als Bundestagsabgeordneter und Linken Politiker voll und ganz auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Es sollte daher für Sie problemlos möglich sein, meine ursprünglich an Ihren MdB Kollegen Herrn Auernhammer gerichtete Frage zu beantworten.
In den Jahren 2015, 2016 und 2017 reisten nach unterschiedlichen Schätzungen 1,5 bis 2 Millionen sogenannte Flüchtlinge aus Afrika und Asien, überwiegend über die Österreichische Grenze, d.h. aus einem EU-Mitgliedsstaat, nach Deutschland ein und beantragten in der Mehrzahl politisches Asyl. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert im Artikel 16a Absatz 1 (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_16a.html) „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Absatz 2 lautet: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat ...“.
Bitte erläutern Sie weshalb die gesamte politische Klasse dieses Landes, insbesondere Bundeskanzlerin Merkel und die Regierung inklusive der CSU-Minister bis heute vollkommen folgenlos grundgesetzwidrig handeln können und auch die Medien Ihrer Meinung nach diesen Umstand nicht thematisierten?
Mit freundlichen Grüßen
H. K.
Ansbach
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Um die Frage direkt einzusehen, können Sie auch diesem Link folgen:
https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/harald-weinberg/question/2018-01-17/296288
Mit freundlichen Grüßen
(i.A. von H. K.)
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