Frage an Harald Petzold von Bernd R. bezüglich Familie
Sehr geehrter Herr Petzold,
ich bin verantwortlich für eine Behindertenorganisation in Oberhavel. Die Bundespolitik strebt seit Jahren nachvollziehbar auch mit entsprechenden Gesetzesnovellen in den Sozialgesetzbüchern II, III, IX und XI den sogenannten Paradigmenwechsel für Menschen mit Behinderungen an. In diesem Zusammenhang wird fortwährend selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt. Tatsächlich relativieren Politik und Kostenträger diese Aufgabenstellung mit dem Prä der Kostenneutralität bei der Umsetzung der Maßnahmen. Prämissen aus der Behindertenpolitik wie "Daheim statt Heim", "Persönliches Budget" bei der Leistungsinsanspruchnahme oder das "Gesetz zur Unterstützten Beschäftigung" suggerieren den großen Aufbruch im Sinne optimalerer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft/Teilhabe am Arbeitsleben.
Sind wir in Anbetracht der bekannten Demographie und der Situation auf dem Arbeitsmarkt auf dem richtigen Weg, wenn wir Menschen mit Behinderungen versprechen, dass ihre Möglichkeiten zum Beispiel durch den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aus sogenannten Sondereinrichtungen günstiger würden? Schließlich wird gar von Inklusion im Sinne der EU-Behindertenrechtskonvention gesprochen. Damit verbinden sich viele Hoffnungen für behinderte Menschen und deren Angehörige.
Können wir im Land Brandenburg den Spagat zwischen der beabsichtigten integrativen Beschulung, auch von Kindern mit schweren Behinderungen, und der notwendigen Bereitstellung adäquater finanzieller Mittel auflösen? Derzeit werden Sonderschulen, besonders allgemeine Förderschulen, geschlossen. Die erforderliche Assistenz in Integrationsklassen von Regelschulen steht nicht ausreichend zur Verfügung. Wie kann Inklusion verwirklicht werden, wenn dies politische Programme von Parteien und auch Behindertenverbänden vorsehen, aber bürokratische Hürden und das nicht abgestimmte Verhalten der verschiedenen Rehaträger dem im Wege stehen?
Sehr geehrter Herr Reinicke,
vielen Dank für Ihre Zuschrift auf Abgeordnetenwatch.
Die von Ihnen genannten Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Umsetzung eines Paradigmenwechsels in der Politik für Menschen mit Behinderungen teile ich. Ich habe als ehemaliger bildungspolitischer Sprecher der PDS-Landtagsfraktion bzw. jetzt Koordinator der Landesarbeitsgemeinschaft „Schule und Bildung in Brandenburg“ der LINKEN selbst ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn es beispielsweise darum ging, die Lern- und Ausbildungsbedingungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen oder attestiertem sonderpädagogischem Förderbedarf zu verbessern. Dabei ist auch mir das Kostenargument immer wieder begegnet. Ich bin der Auffassung, dass es keine Frage der Finanzierung bleiben kann, ob Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können oder nicht, weil bedarfsgerechter Nachteilsausgleich eine Frage der Würde und Gleichbehandlung ist.
Nun zu Ihren Fragen. Sie fragen zunächst, ob wir in Anbetracht der bekannten Demographie und der Situation auf dem Arbeitsmarkt auf dem richtigen Weg sind, wenn wir Menschen mit Behinderungen versprechen, dass sich ihre Möglichkeiten zum Beispiel durch den Übergang von Sondereinrichtungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern würden?
Ich möchte darauf vorab antworten, dass ich als Kandidat der LINKEN für die bevorstehende Wahl zum Deutschen Bundestag Ihnen oder Menschen mit Behinderungen gar nichts versprechen kann, genauso wenig wie dies eine Partei könnte. Ich verstehe meine Aufgabe als möglicher künftiger Abgeordneter so, dass ich politische Interessen aus der Gesellschaft aufgreife, um diese öffentlich und im politischen Raum zu thematisieren, Lösungsmöglichkeiten für auftretende Probleme zu entwickeln, die Regierung zu kontrollieren und Alternativen zu ihrer Politik zu entwickeln. Gleichzeitig verstehe ich mein politisches Wirken dann als erfolgreich, wenn es gelingt, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbst anpacken bzw. lösen zu können und sie bei diesem Prozess in vielfältiger Form zu unterstützen. In diesem Sinne werde ich mich auch immer dafür einsetzen, dass Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt teilnehmen können. Dies betrachte ich als ein ganz normales Menschenrecht, welches einzufordern nicht nur wichtig ist, sondern aus verschiedensten Gründen heraus auch notwendig. Gäben wir diesen Anspruch auf, würden wir auch den Anspruch eines gleichberechtigten Lebens in Würde aufgeben. DIE LINKE ist deshalb dafür, dass entsprechende Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Dabei muss das Recht auf Arbeits- und Ausbildungsassistenz unbürokratisch erfüllt werden. Außerdem sollen Möglichkeiten der barrierefreien Umgestaltung von Arbeitsstätten und verschiedenen Formen geschützter Einzelarbeitsplätze bzw. Abteilungen in regulären Betrieben ausprobiert bzw. besser genutzt werden. Wenn es notwendig ist, sollen Lohnkostenzuschüsse (ggf. auch dauerhaft) gewährt werden, damit Menschen mit Behinderungen ebenso tarifgerechte Löhne erhalten, von denen man leben kann.
Zu Ihrer zweiten Fragen: Ich bin fest davon überzeugt, dass der von Ihnen angesprochene Widerspruch bei entsprechendem politischem Willen aufgelöst werden kann. Das setzt allerdings voraus, dass tatsächlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine individuelle Förderung aller Kinder tatsächlich an allen Regelschulen ermöglicht. Das bedeutet u.a. die Ausstattung aller Schulen mit entsprechend qualifizierten LehrerInnen sowie SonderpädagogInnen, wofür neben den zusätzlichen Personalstellenmitteln auch die notwendigen Ausbildungskapazitäten – sprich: ein entsprechender Lehramtsstudiengang auch in Brandenburg – zur Verfügung gestellt werden müssen. Darüber hinaus muss Bürokratie dem Anspruch nach inklusiver Bildung und Erziehung angepasst und ein gemeinsames Agieren von Bildungspolitik und Trägern sozialer und gesundheitlicher Belange durchgesetzt werden. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass dies kurzfristig zu erreichen wäre. Deshalb setzt sich die LINKE in ihrem Brandenburger Landtagswahlprogramm auch für einen Fortbestand von Förderschulen solange ein – und damit für einen behutsamen Übergang, der nicht mit der Schließung der Förderschulen beginnt – , bis die o.g. Rahmenbedingungen ein erfolgreiches gemeinsames Lernen aller Kinder und Jugendlichen ermöglichen. Aber wir wollen aktiv in eine Umgestaltung dieser Rahmenbedingungen einsteigen und haben dazu entsprechende Vorschläge gemacht.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinen Ausführungen Ihre Fragen beantworten konnte. Sie können ansonsten die Positionen der LINKEN zu einer Politik für Menschen mit Behinderungen auch auf unserer Antwort auf die Wahlprüfsteine des Allgemeinen Behindertenverbandes e.V. nachlesen. Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und verbleibe
Mit besten Grüßen
Harald Petzold