Frage an Hans-Peter Bartels von Sven O. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Bartels,
in Ihrem Essay "Wider die Politikverachtung" sprechen Sie sich fuer ein Institut für die Didaktik der Demokratie aus, um damit der Unkenntnis der Bevoelkerung entgegenzuwirken.
Ich halte das fuer sinnvoll, aber gibt es nicht noch andere Massnahmen die getroffen werden muessten?
Heute kann ein Innenminister dem das Parlament seine Wuensche abschlaegt in die Innenministerkonferenz der EU gehen und dieses Ueberstimmen. Ist das noch Demokratie? Oder die viel zu grosse Macht der EU-Kommissionen im Vergleich zur kleinen Macht des EU-Parlaments?
Ist es nicht eher so, das Politik heute immer mehr hinter verschlossenen Tueren stattfindet, wo nicht gewaehlte Parteimitglieder mit anderen nichtgewaehlten Politikern Kompromisse suchen, auf die das Parlament keinen grossen Einfluss mehr hat?
Ist es nicht so, dass nicht nur die deutschen Buerger, sondern auch die deutschen Politiker einen Auffrischungskurs in Demokratie benoetigen?
Ausserdem beschweren Sie sich, dass der Begriff "Fraktionszwang" negativ belegt ist. Ist denn Fraktionszwang wirklich positiv, wenn in Artikel 38GG der Abgeordnete nur seinem Gewissen unterworfen wird, unter dieser Schutz in Artikel 46GG dieser Schutz sogar noch verstaerkt wird? Ist Fraktionszwang in seiner heutigen Form dann nicht ein Verstoss gegen die Verfassung?
Ich freue mich auf Ihre Gedanken
Sven Opitz
Sehr geehrter Herr Opitz,
zur ersten Frage: Die EU ist ja (noch) kein Staat, aber auch mehr als ein Staatenbund oder Bündnis (wie z.B. die Nato). Deshalb sind die Innenbeziehungen in der EU immer auch Beziehungen zwischen nach wie vor souveränen Staaten mit Regierungen, die von ihren jeweiligen nationalen Parlamenten gewählt und kontrolliert werden, nicht vom EU-Parlament. Deshalb hat das EU-Parlament in der Europäischen Union (noch) nicht die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie ein nationales Parlament in seinem jeweiligen Land.
Zum sog. „Fraktionszwang“: Sie wählen bei der Bundestagswahl mit Ihrer ersten Stimme Ihren Wahlkreisabgeordneten, mit der zweiten wählen Sie eine Partei – wenn das beim letzten Mal z.B. die SPD war, haben Sie mit dieser einen Stimme 221 weitere Abgeordnete gewählt: So viele SPD-Kandidaten (plus der von Ihnen vielleicht direkt gewählte Wahlkreiskandidat) kamen nach dem Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl in den Bundestag. Diese zusammen 222 SPD-MdBs müssen ein Mindestmaß an Geschlossenheit aufbringen, damit Ihre zweite Stimme Sinn hat. Sie wollten „die SPD“ wählen, aber Sie bekommen 222 sehr unterschiedliche Menschen (jeden Alters, beiderlei Geschlechts, unterschiedlicher Vorbildung, Konfession, Berufserfahrung, regionaler Verwurzelung und politischer Schwerpunktsetzung), die zusammen jene 16 Millionen Stimmen repräsentieren, die mit ihrem zweiten Kreuz Sozialdemokraten gewählt haben. Diese 222 müssen sich aufeinander verlassen können – und SIE müssen sich darauf verlassen können, dass diese zusammen die SPD-Fraktion bilden. Deshalb ist „Fraktionsdisziplin“ nötig: Wer Entscheidungen der Fraktion, an denen er durch Diskussion und Abstimmung beteiligt ist, nicht akzeptieren kann und im Bundestagsplenum gegen die eigene Fraktion stimmen will, muss dies vorher der Fraktion mitteilen (damit alle wissen können, woran sie sind, gerade bei knappen Mehrheiten wie 2002-2005!). Gegebenenfalls ist dann noch einmal in der Fraktion zu diskutieren, um sich zu einigen. Aber – ZWINGEN kann einen freigewählten Bundestagsabgeordneten niemand zu nichts. Wie ich am Ende im Parlament abstimme, muss ich in jedem Fall selbst entscheiden und verantworten, zum Beispiel gegenüber denen, die von einem Gesetz betroffen sind, gegenüber den Wählerinnen und Wählern im Wahlkreis und im übrigen Deutschland … Und es kommt auch immer wieder vor, dass einzelne Abgeordnete, nachdem sie ihre Fraktion darüber unterrichtet haben, gegen deren Beschlusslage stimmen. So habe ich z.B. Gerhard Schröder als Bundeskanzler das Vertrauen ausgesprochen, als er über eine Vertrauensabstimmung, die er verlieren wollte, Neuwahlen anstrebte. Ich wollte mich nicht – so die Fraktionslinie – „enthalten“.
Dies alles (gilt für andere Parlamentsfraktionen ähnlich) ist vereinfacht dargestellt (es gibt auch noch „Koalitionszwänge“, die „klassischen“ Gewissensentscheidungen von Transplantationsmedizin bis zur Hauptstadtentscheidung u.a.), aber ich hoffe, es hilft Ihnen weiter.
Beste Grüße
Hans-Peter Bartels