Frage an Hans-Joachim Hacker von Andreas B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Hacker,
ich habe eine Frage zum EU-Vertrag von Lissabon und beziehe mich auf die vom österreichischen Bundeskanzleramt veröffentlichte konsolidierte Fassung www.zukunfteuropa.at/DocView.axd?CobId=26956.
In Artikel 9a [14] Abs. 1 wird dem direkt von den BürgerInnen gewählten Europäischen Parlament die Gesetzgebungsbefugnis zusammen mit dem Rat zugewiesen, der sich aus ministeriellen Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt (Artikel 9c [16] Abs. 2).
Werden damit nicht Aufgaben der Legislative teilweise durch Exekutiv-Kräfte wahrgenommen? Mir wurde zeitlebens die strikte Gewaltenteilung als beste Staatsform vermittelt, darum frage ich mich, warum dieses bewährte System solcherart beschädigt werden soll.
Es kommt aber leider noch schlimmer: Diese bizarre Legislative darf nach Artikel 9d [17] Abs. 2 Gesetzgebungsakte der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen. Die Mitglieder der Kommission wiederum werden durch den Rat (s.o.) vorgeschlagen und nicht vom Europäischen Parlament. Dieses kann lediglich dem Kommissionskollegium zustimmen, die Ernennung der Kommission erfolgt aber durch den Europäischen Rat. Dieser wiederum setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (Art.9d [17] Abs. 7, Art. 9b [15] Abs. 2), also auch Exekutivorganen.
Kurz und knapp: Es entsteht der Eindruck, dass sich in der modernen EU die Exekutiven zwar über Umwege, aber dafür ohne viel demokratische Kontrolle ihre Gesetze selbst geben. Wie sehen Sie das?
Wenn das so nicht beabsichtigt ist: ab in die Tonne mit diesen Verträgen! Wenn es Absicht ist, wüsste ich gerne, was Sie tun werden, um diese Bedrohung eines wirklich undemokratischen Europas abzuwenden.
Außerdem wünsche ich mir ein europaweites Referendum zu diesen zweifellos wichtigen Verträgen!
Für Ihre Stellungnahme vielen Dank!
Mit freundlichen Grüßen,
Andreas Beck
Sehr geehrter Herr Beck,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage zum EU- Vertrag von Lissabon.
Ich gebe zu, dass die demokratische Legitimität der EU kompliziert erscheint, da sie nicht allein durch eine Institution gewährleistet wird, sondern durch mehrere. Das kann den Eindruck erwecken, dass die Exekutive gleichzeitig auch als Legislative handelt.
Es gilt jedoch: Die nationalen Parlamente legitimieren und kontrollieren ihre jeweiligen Regierungen in den Ministerräten und dem Europäischen Rat. Die direkte Mitwirkung als Gesetzgeber und die Kontrolle von Rat und Kommission erfolgt durch das Europäische Parlament.
Die gleichberechtigten Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments werden durch den Vertrag von Lissabon ausgeweitet. Das bedeutet eine Stärkung der Demokratie. Auch die Kommission wird stärker an das EP gebunden: der Kommissionspräsident wird zukünftig im Lichte des Ergebnisses der Europawahl vom Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt; die ganze Kommission muss sich dem Votum des Parlaments unterwerfen.
Das EP kann künftig über alle Ausgabenbereiche mitentscheiden (Budgetrecht). Die bisherige Beschränkung seines Einflusses auf die nicht-obligatorischen Ausgaben entfällt.
Auch die nationalen Parlamente erhalten mehr Einwirkungsmöglichkeiten. Mit einer Subsidiaritätsrüge kann die Regelungskompetenz der EU zu Beginn eines Gesetzgebungsprozesses kritisch überprüft werden. Die Frist für die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente wird von sechs auf acht Wochen verlängert. Nach Abschluss eines Gesetzgebungsprozesses können nationale Parlamente gegen die Missachtung der Subsidiarität vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagen (siehe oben). Wenn im Rat der EU zusätzliche Bereiche von der Einstimmigkeit in die Mehrheitsentscheidung übergehen sollen, haben die nationalen Parlamente hier ein Widerspruchsrecht. Bereits ein Nein eines nationalen Parlaments führt endgültig dazu, dass der Übergang blockiert ist.
Der Vertrag von Lissabon schafft zudem erstmals die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens, dadurch wird die direkte Demokratie in der EU gestärkt. Einen Bürgerentscheid sieht der Vertrag nicht vor, eine solche Form der direkten Form der Demokratie ist innerhalb der EU nicht konsensfähig. Auch in Deutschland sind Volksentscheide auf Bundesebene nur für Neugliederungen der Bundesländer vorgesehen. Der Grundsatz der repräsentativen Demokratie ist sowohl im Vertrag von Lissabon (Art. 10 Abs. 1 EUV) als auch in den nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten anerkannt, auch wenn es nationale Ausprägungen gibt. Wir möchten nichtsdestotrotz darauf hinweisen, dass die SPD sich in der Vergangenheit wiederholt für die Einführung von Elementen direkter Demokratie eingesetzt hat, die Umsetzung aber an CDU und CSU gescheitert ist.
Mit freundlichen Grüßen
Hans- Joachim Hacker