Frage an Hans-Joachim Fuchtel von Gisela M. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Fuchtel,
hinsichtlich der Kindergeld-Abzweigungsanträge von Sozialhilfeträgern (4. Kapitel SGB XII) erklären Sie, dass der Gesetzgeber mit seinen sozialhilferechtlichen Vorschriften eine deutliche Wertentscheidung getroffen hätte, an die der Träger der Sozialhilfe gebunden sei.
Diese Deutlichkeit scheinen die Sozialhilfeträger aber nicht zu erkennen, denn wie den "Westfälischen Nachrichten" zu entnehmen ist, spricht der Sozialamtsleiter der Stadt Münster beispielsweise von einer "veränderten Rechtslage" und rechnet im Sparprogramm der Stadt mit 200.000 Euro an abgezweigten Kindergeldern:
Sieht der Gesetzgeber hier keinen Handlungsbedarf, nachdem die Abzweigungsanträge nicht nur dann gestellt werden, wenn die Eltern selbst auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind oder wenn das Kind vollstationär untergebracht ist, sondern auch bei denjenigen Eltern, die neben der eigenen Betreuung ihres erwachsenen behinderten Kindes zusätzlich erwerbstätig sind? Die wiederholte BSG-Rechtsprechung - z.B. B 9b SO 5/06 R - wonach bei Kindern, die mit den Eltern in häuslicher Gemeinschaft leben, vom "Wirtschaften aus einem Topf" ausgegangen wird und wonach es mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren wäre, wenn diese (!) Eltern eine Anrechnung des Kindergeldes hinnehmen müssten, wird durch pauschale Sparprogramm-Abzweigungsanträge ad absurdum geführt.
Welche Maßnahmen plant hier der Gesetzgeber, um sicherzustellen, dass die Sozialhilfeträger bei ihrer Vorgehensweise die Wertentscheidung des Gesetzgebers auch berücksichtigen?
Eltern schwerstbehinderter Kinder leisten durch die eigene Betreuung einen enormen Beitrag zur Vermeidung vollstationärer Kosten. Kann der Gesetzgeber hier wirklich keine Maßnahmen ergreifen, um zusätzliche Belastungen durch die Sozialamtspraxis zu vermeiden?
Freundliche Grüße
Gisela Maubach
Sehr geehrte Frau Maubach,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 2. Februar 2011, mit dem Sie die geänderte Entscheidungspraxis der Sozialhilfeträger bei der Berücksichtigung von Kindergeld für volljährige und dauerhaft voll erwerbsgeminderte Empfänger von Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung ansprechen.
Aus Ihrem Schreiben kann ich entnehmen, dass Ihnen die Rechtsauffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bekannt ist.
Der Bundesgesetzgeber hat die für die bisherige Entscheidungspraxis maßgeblichen Rechtsvorschriften (§ 74 EStG und §§ 43 Abs. 2 und 94 Abs. 2 SGB XII) nicht geändert. Mit den beiden sozialhilferechtlichen Vorschriften hat der Gesetzgeber die von Ihnen erwähnte deutliche Wertentscheidung getroffen, dass die Heranziehung von grundsätzlich unterhaltsverpflichteten Eltern zu den nicht unerheblichen Aufwendungen eines Sozialhilfeträgers für Leistungen an volljährige behinderte Kinder im Regelfall auf 31 € (Wert in 2011) begrenzt bleiben soll. An diese Wertentscheidung des Sozialhilfegesetzgebers ist der Träger der Sozialhilfe als zuständige Leistungsbehörde gebunden. Er ist gehalten, in jedem Einzelfall zu überprüfen, ob ein eventueller Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 EStG mit dieser Wertentscheidung in Übereinstimmung steht.
Die für die Durchführung des SGB XII zuständigen Behörden sind nach der Verfassungsordnung uneingeschränkt zum rechtsstaatlichen Handeln verpflichtet. Von daher ist der von Ihnen eingeforderte Handlungsbedarf des Bundesgesetzgebers nicht gegeben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird aber die aktuell gehäuft auftretenden Anträge von Sozialhilfeträgern bei den Familienkassen zum Anlass nehmen, um in gezielten Gesprächen mit den zuständigen Behörden auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene auf eine Beibehaltung der bisherigen gesetzeskonformen Verwaltungspraxis hinzuwirken.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Joachim Fuchtel, MdB