Frage an Hans-Christoff Dees von Marie E. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dees,
ich verfolge seit einiger Zeit die Diskussion um das Feierabend-Parlament in den Medien. Hamburg ist das einzige Bundesland mit einem solchen Parlament.
Sind sie dafür oder dagegen?
Nennen Sie bitte Gründe!
Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen,
Marie Erdmann
Sehr geehrte Frau Erdmann,
das sog. Feierabendparlament (es gilt inzwischen als "nebenberuflich") wird immer wieder gerne hochgehalten, zuletzt meiner Kenntnis nach von Henning Voscherau vor knapp einem Jahr im Hamburger Abendblatt. Die häufigste Begründung reduziert sich auf die schlichten Formeln "Berufsleben = mehr Bürgernähe und Kompetenz = bessere Politik" oder "Hamburger Tradition".
Ich halte alle Begründungen für eine Fiktion. Es stimmt zwar, dass das in meinem Berufsleben gewonnene Erfahrungswissen wertvolles Anschauungsmaterial für meine eigene, politische Urteilsfindung ist. Gerade als Fachsprecher für Arbeitsmarkt-Politik zehre ich von meiner diesbezüglichen beruflichen Erfahrung. Doch mit Sicherheit ließen sich Fachkenntnisse und Bürgernähe auch anders herstellen.
Die Schlüsselfrage ist doch, was die Menschen in der Stadt von ihren Abgeordneten erwarten, also welche Anforderungen sie zu erfüllen haben. Und hier muss ich Ihnen ganz klar sagen, dass nach meiner Auffassung ein nebenberuflicher Abgeordneter unmöglich das leisten kann, was allgemein von einem Abgeordneten erwünscht wird. Gleichzeitig geht er anhaltend das berufliche Risiko ein, bei zu großem politischen Engagement seine berufliche Entwicklung nachhaltig einzuschränken, wenn nicht gar zu gefährden - mithin durch seine Abgeordnetentätigkeit genau die Kompetenz einzuschränken, die nach der landläufigen Auffassung seine Arbeit als Abgeordneter so sehr bereichern soll.
Ich möchte Ihnen das an meinen eigenen Schwerpunktthemen Wirtschaft, Arbeit und Haushalt erläutern: Arbeitsmarktpolitik und die Gesetzeswerke um Hartz-IV sind nicht nur ein Drittel so umfangreich, weil es den Hamburgern beliebt nur nebenberufliche Parlamentarier zu haben. Die schiere Zahl an gedruckten Seiten des Hamburger Haushaltes und dazugehöriger Vermerke reduzieren sich nicht von einem Meter auf 30 cm, nur weil Hamburger Abgeordnete weniger Zeit mitbringen.
Ich arbeite in einem großen Hamburger Unternehmen. Ich habe zwar meine Stundenzahl reduzieren können, dennoch werden von mir häufiger mehrtägige Dienstreisen ins Ausland erwartet und selbstverständlich ist immer mal wieder mehr Präsenz aufgrund aktueller Probleme erforderlich. Viele fachpolitischen Termine oder Aktivitäten aber, z.B. der Besuch der zahlreichen Träger von aktiver Arbeitsmarktpolitik in der ganzen Stadt, oder das schnelle Verfassen von Pressemitteilungen zu aktuellen Themen müssen tagsüber, neben der regulären Arbeit, "eingeschoben" werden. So wäre ich als Abgeordneter bereits mit diesen Aktivitäten und den Bürgerschaftssitzungen ganz gut ausgelastet.
Nun hat die Hamburger Wählerschaft in ihrer Weisheit per Volksentscheid ein neues Wahlkreissystem durchgesetzt. Ursprünglich bin ich für den bereits recht großen Stadtteil Bahrenfeld nominiert worden. Nun erstreckt sich das Gebiet in dem mich - dem Anspruch der Wahlrechtsreform gemäß - die Wählerinnen und Wähler persönlich kennen sollen, von der Flurstraße beim Elbe-Einkaufszentrum bis zum Hamburger Fischmarkt - mithin 27 Quadratkilometer Stadtgebiet mit mehr als 87.000 Einwohnern.
Alle dortigen Bürgervereine, Sportvereine, Initiativen, Kleingartenvereine und Polizeidienststellen, Freiwillige Feuerwehren und die Hilfsorganisationen, Stadteilzentren und Schulen sowie natürlich wichtige Arbeitgeber und vor allem ihre Betriebsräte müssten von mir eigentlich einmal im Jahr, mindestens aber alle zwei Jahre besucht werden - um den Einspruch einzulösen, ein bürgernaher Abgeordneter zu sein und "mitzukriegen" wo vor Ort der Schuh drückt. Das war ja schließlich der Anspruch, warum die Bürger für ein neues Wahlsystem gestimmt haben. Bereits dieser Anspruch ist offensichtlich bereits zeitlich kaum einzulösen. Doch die Wahlkreisarbeit ist ja nur ein kleiner Teil der Aufgaben eines Abgeordneten.
Die meisten politischen Termine, Ausschüsse, Fraktionsarbeitskreise, öffentliche Veranstaltungen zu denen man als Referent eingeladen ist, Parteitermine, Empfänge und sonstige Einladungen finden zumeist abends statt. Es vergeht kaum eine Woche mit weniger als zwei bis drei -zumeist längeren Abendterminen-, oft auch vier, manchmal sogar 5 Terminen. Manche Zeit am Wochenende kommt hinzu. Ich habe eine kleine dreijährige Tochter und im Sommer erwarten wir unser zweites Kind. Unter den obwaltenden Umständen -Beruf und Politik- ist eine liebevolle und fürsorgliche Teilhabe am Familienleben kaum zu bewerkstelligen.
Missverstehen Sie mich bitte nicht: Dies ist keine Klage und natürlich bin ich kein Opfer der Umstände. Meine Entscheidung als Abgeordneter zu kandidieren habe ich frei, mit Freude und in Absprache mit meiner Frau getroffen. Es gibt auch viele Momente, wo die Tätigkeit mich sehr erfüllt. Ich wehre mich nur gegen die romantisierende Vorstellung einer Vereinbarkeit von Mandat und Beruf sowie die vielfach diesbezüglich sehr unehrlich geführte Diskussion. Denn viele sog. "Experten", die sich darin gefallen, die Politiker wegen mangelnder Bürgernähe pauschal zu kritisieren, sie gerne auch schnell mal als mittelmäßig und minderbemittelt abstempeln, viele Medien die solche Äußerungen gerne aufgreifen, weil sie sich so nett lesen und so gut zu unseren zumeist bereits gefassten Vorurteilen passen - alle diese Personen des öffentlichen Lebens erwecken den Eindruck, es sei eigentlich selbstverständlich, dass man es besser machen können müsste.
Nach einem Jahr eigener Erfahrung als nebenberuflicher "Politiker" im Hamburger Landesparlament kommt mir die Vorstellung vom bürgernahen und allseits kompetenten Politiker inzwischen wie eine naive Kindergeschichte vor. Ungefähr so wie die Geschichte vom Weihnachtsmann, der an einem Weihnachtsabend alle Kinder besucht und ihnen Geschenke bringt.
Das führt aber zu einem schlimmen Ergebnis: Auf der einen Seite sind Hamburger Landesparlamentarier -wenn sie es offen einräumen- strukturell überfordert, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Denn Politik hat ja nebenbei auch noch die eigentliche Aufgabe, neue Konzepte auf die drängenden Fragen der (Großstadt-)Moderne zu entwickeln und natürlich der Regierung, die mit Ihrem großem Apparat, dem Herrschafts- und dem Detailwissen das Heft des Handelns fest in der Hand hält -gerade als Opposition- professionell und unnachgiebig auf die Finger zu schauen.
Auf der anderen Seite werden mit der gängigen Politikschelte und der vermeintlich fehlenden Bürgernähe hehre Ideale in Erwartungen umgemünzt, die eine immer größer werdende Kluft von Anspruch und herstellbarer Wirklichkeit entstehen lassen. So wird leichtfertig Politikverdrossenheit und immer größere Zweifel an dem demokratischen System gezüchtet.
Meines Erachtens tritt dies in Hamburg aufgrund der Nebenberuflichkeit der Politiker besonders zutage - die beschriebene Kluft lässt sich aber auch andernorts und auf allen politischen Ebenen in Deutschland wahrnehmen.
Meine abschließende These bezogen auf Hamburg lautet wie folgt: Die Hansestadt Hamburg wurde nur deshalb 44 Jahre in Folge von der Sozialdemokratie regiert, weil der Hamburger Parlamentarismus so schwach ausgestattet ist, dass er einer soliden Regierung kaum eine organisierte Gegenmacht entgegensetzen kann.
Man kann sich eine machtlose Politik wünschen. Doch man glaube nicht, dass es dann in der Gesellschaft keine Macht mehr gäbe und alles "freier" und demokratischer wäre. Wenn man sich möglichst machtlose Politiker wünscht, dann sollte man es auch ehrlicherweise aussprechen.
In der Hoffnung, Ihnen mit meiner Antwort gedient zu haben, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
H..-Christoff Dees