Frage an Hans-Christian Ströbele von Andre S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Stroebele,
Ich habe gelesen, daß Sie schon viele Fragen zur EU-Verfassung beantwortet haben. Ich möchte Sie jedoch noch einmal zu den Umständen befragen, unter denen diese gegemwärtig durchgepaukt wird.
Die EU-Verfassung, die inzwischen "Vertrag von Lissabon" genannt wird, ist von allein drei europäischen Völkern, die direkt befragt wurden, in demokratischen Abstimmungen abgelehnt worden, von den Franzosen, Niederländern und Iren. Alle drei geäußerten Volkswillen wurden von den europäischen Machtpolitiker ignoriert und übergangen. Die meisten Völker wurden überhaupt nicht erst gefragt, vermutlich aus Angst, daß Volk könnte anders abstimmen, als es der Politik paßt.
Nun meine drei Frage dazu an Sie persönlich:
Bedeutet Demokratie denn nicht, daß es einen Meinungspluralismus gibt, daß öffentlich für verschiedene Positionen geworben wird und letztlich eine ergebnisoffene Abstimmung erfolgt, dessen Ergebnis alle Bürger zu akzeptieren haben?
Was ist das denn für eine Demokratie, wo abgestimmt wird und einzelne Politiker meinen, sie könnten die Abstimmung ignorieren oder so lange abstimmen lassen, bis ihnen das Ergebnis irgendwann gefällt?
Drei Völker haben die EU-Verfassung mehrheitlich demokratisch abgelehnt. WAhrscheinlich wären es noch ein paar mehr, wenn man die Bürger direkt fragen würde.
Wäre es jetzt nicht zutiefst demokratisch, wenn wir alle endlich akzeptieren würden, daß es offenkundig unter einigen Völkern Europas faktisch keine Mehrheit für diese EU-Verfassung gibt und sie deshalb auch nicht in Kraft treten kann?
Ich meine, wenn Menschen eine Verfassung von oben aufoktruiert wird, obwohl diese Menschen diese Verfassung mehrheitlich nicht wollen und dies auch durch Abstimmung zum Ausdruck gebracht haben, dann kann man diesen Vorgang doch unmöglich als Demokraite (=Volksherrschaft) bezeichnen, oder wie sehen Sie das?
Mit freundlichen Grüßen
Andre Starke
Sehr geehrter Herr Starke.
Auch ich habe mich stets für eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung auch in Deutschland eingesetzt, wenn auch ohne Erfolg.
Die Lissabon-Verträge sind zwar weitgehend mit der EU-Verfassung identisch, aber sie haben nicht Verfassungsrang.
Wenn auch nur in einem Land der EU die jeweils verfassungsrechtlich notwendige Mehrheit nicht zustandekommt, werden die Lissabon-Verträge nicht in Kraft treten.
Nicht nur direkte Entscheidungen der Bevölkerung sind demokratisch, sondern auch die ihrer frei gewählten Parlamente. Dies gilt insbesondere in sog. Parlamentarischen Demokratien.
Im übrigen sind die meisten Regierungen und Gesetze auch in demokratisch verfassten Staaten wie den USA und Deutschland nicht von der realen Mehrheit der Wahlbevölkerung zumindest indirekt bestimmt worden, weil nur ein Teil der Bevölkerung sich an Wahlen beteiligt. Trotzdem sind sie legitim.
Das heißt nicht, daß ich deshalb akzeptiere, wenn über Verfassungen nicht per Volksabstimmung entschieden werden muß.
Ich werde mich weiter für das direkte Entscheidungsrecht der Bevölkerung stark machen.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele