Frage an Hans-Christian Ströbele von Matthias B. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Ströbele,
im Gebiet Ihres heutigen Wahlkreises, im Norden von Kreuzberg, fand im Juli 1940 etwas sehr Erstaunliches statt: ein Einzelner, der Krakauer Sprachwissenschaftler Vilim Francic, der selbst schon drei Monate Gefängnis und KZ hinter sich hatte, ging allein in die Zentrale der SS in der Prinz-Albrecht-Str. 8 (heute Niederkirchnerstr.), um dort die sofortige Freilassung von noch nicht entlassenen polnischen Kollegen aus den KZs Sachsenhausen und Dachau zu verlangen. Er kam sogar lebend wieder aus dem Gebäude heraus. Aufgrund sehr vielfältiger internationaler Proteste (Presseberichte, Briefe und Eingaben, diplomatische Noten, Bittbesuche etc) haben am Ende sogar 150 der 169 verschleppten Krakauer Wissenschaftler überlebt.
Seit 2002 befragt unser kleiner Verein zur Völkerverständigung mit MSOE intensiv Berliner Gedenkstätten, Bundes- und Lokalpolitiker im heutigen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, fast ohne Erfolg. Während in Polen und Krakau eine überragende Projektbedeutung dokumentiert ist, hatten in den letzten vier Jahren die Gedenktafel-Kommission des Bezirksamtes, das Kreuzberg-Museum und die Kulturstadträtin keine Lust, die Würdigung von überragender europäischer Zivilcourage und Solidarität zu unterstützen (Vergleichsfall: öffentlicher Protest arischer Frauen für jüdische Männer/ Söhne in der Rosenstr. in Mitte, im Febr. 1943).
Frage: Wie halten Sie es mit Zivilcourage? Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Ihr Bezirk eine konkrete bezirkspolitische Unterstützung bisher abgelehnt hat? Und sind Sie eventuell auch bereit, hierzu einmal Fragen zu stellen an den Kulturstaatsminister und das BM für Wissenschaft und Forschung (das Vorgängerministerium unterstützte die Deportation der Krakauer Wissenschafter im Nov. 1939)?
in Hoffnung und mit freundlicher Bitte um Ihre Unterstützung
dankt und grüßt
Matthias Burchard
Verein zur Völkerverständigung mit MSOE
Berlin
Sehr geehrter Herr Burchard.
Stets habe ich die Errichtung von Gedenktafeln und sog. "Stolpersteinen", die an Tatort der Verbrechen der deutschen Nazis oder Akte des Widerstandes dagegen erinnern, überall in Berlin begrüßt und unterstützt, weil ich es für besonders eindrucksvoll und für richtig halte, wenn am Ort des Geschehens solche Erinnerungshinweise zu finden sind. Auch im von Ihnen geschilderten Fall von eindrucksvoller Zivilcourage des Vilim Francic halte ich zumindest ein Gedenktafel für angebracht und notwendig.
Sie teilen aber nicht mit, daß genau an dieser Straße, der ehemals Prinz-Albrecht-Str. 8, heute Niederkirchnerstraße, derzeit ein großes Gedenkvorhaben realisiert wird: das Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors". Fast das gesamte Gelände der ehemaligen Gestapo-Zentrale ist in dieses Vorhaben einbezogen. Seit langer Zeit hatte ein Dokumentationszentrum bereits an diesem Ort existiert und wurde von vielen zehntausend Menschen besucht. Herr Dr. Nachama ist Leiter der Stiftung. Einige Jahre wurde über die Neugestaltung diskutiert und um die Finanzierung gerungen. Jetzt ist das Zentrum im Bau. Der Neubau soll 2010 eröffnet werden
Angesichts dieser Fakten scheint es mir nicht nur nachvollziehbar, sondern auch richtig und notwendig, daß über das Ob und Wie der Anbringung der von Ihnen vorgesehenen Gedenktafel gerade an diesem Ort mit den Trägern und Gestaltern der "Topographie des Terrors" gesprochen wird, um zu prüfen, ob die Integration Ihres Projektes möglich ist und wie dies umgesetzt werden könnte. Jedenfalls sollte die Gedenktafel nicht mit den Plänen der Gestaltung des Dokumentationszentrums kollidieren.
Sie erwecken in Ihrer Frage den unrichtigen Eindruck, die Errichtung der Gedenktafel sei daran gescheitert, daß Politiker, Bezirksamt und insbesondere die zuständige Stadträtin "keine Lust hatten, die Würdigung der Zvilcourage und Solidarität zu unterstützen." Ganz im Gegenteil hatte Ihnen die Bezirkstadträtin im März dieses Jahres erneut schriftlich mitgeteilt, daß der Bezirk Ihr Anliegen unterstützt. Sie hatte auf das Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" hingewiesen und Sie gebeten mit Herrn Dr.Nachama Kontakt aufzunehmen.
Sie haben dies versucht, vermutlich ohne das gewünschte Ergebnis.
Mir ist nicht bekannt, ob das Dokumentationszentrum nicht ohnehin plant, den verbrecherischen "Generalplan Ost" der Nationalsozialisten und auch das mutige Engagement von Vilim Francic in sein Konzept zu aufzunehmen.
Wenn dies nicht der Fall sein sollte und auch keine Einigung mit der Stiftung möglich ist, könnte mit den Bezirksämtern der angrenzenden Bezirken über einen alternativen Standort gesprochen werden, der den örtlichen Bezug zu dem Geschehen wahrt, an das erinnert werden soll.
Ich bin bereit, eine Anfrage wegen Unterstützung eines solchen Anliegens an die Bundesregierung zu stellen, wenn es ausreichend konkretisiert ist.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele