Frage an Hans-Christian Ströbele von Robert S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Ströbele,
ich habe ein paar grundsätzliche Fragen zum Sinn unserer Verfassung/Grundgesetz.
Wieso ist es für unserer Regierung/Staat/Minister e.t.c. möglich des öfteren verfassungswidrig zu handeln bzw. verfassungswidrige Gesetze vorzuschlagen ohne dass die jeweiligen Personen mit Folgen zu rechnen zu haben?
Als Beispiele möchte ich den Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Awacs-Flugzeugen 2003, die kürzliche Auslieferung einer Deutschen Staatsbürgerin an das Ausland, die ursprüngliche Fassung zur Vorratsdatenspeicherung/Onlinedurchsuchung, (die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon) und viele weitere, die ich jetzt nicht alle aufzählen möchte.
Kann ich davon ausgehen, daß ich bei einem Verfassungsbruch meinerseits auch straffrei bleibe?
Vielleicht ist es Ihnen als Rechtsanwalt möglich, mir eine grundsätzliche Antwort auf die Folgen eines Verfassungsbruches zu geben, und vielleicht auch eine Erklärung, warum es ein Unterschied ist, ob ein Bürger oder ein Abgeordneter / Minister eine solche Tat begeht.
Mit freundlichen Grüßen
Robert Stein
Sehr geehrter Herr Stein.
Es gibt grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Mitglieder der Bundesregierung oder Ministerien. Vor dem Gesetz sind alle gleich. So sollte es jedenfalls sein. Aber es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß jeder Gesetzesverstoß oder jeder Verstoß gegen die Verfassung auch strafbar ist. Nur wenn ein Gesetz ausdrücklich ein Verhalten - Tun oder Unterlassen - für strafbar erklärt, kann das Verhalten zu einer Anklage und einer Verurteilung führen.
Das heißt nicht, daß andere Rechtsverstöße folgenlos bleiben. Die Rechtsfolgen sind jeweils im Gesetz genannt, so führt beispielsweise ein Verstoß gegen die gesetzliche Beurkundungspflicht bei Grundstücksgeschäften dazu, daß ein Kaufvertrag nichtig ist, also ein Verkauf nicht zustandekommt, oder daß ein Mietvertrag, der mietrechtliche Gesetze verletzt, ganz oder zum Teil ungültig ist.
Nicht anders ist es bei Verletzung des Grundgesetzes. Wenn der Bundestag oder ein Landtag ein Gesetz beschließt, das gegen einen Artikel des Grundgesetzes verstößt, wie etwa das Gesetz über die online-Durchsuchung in Nord-Rhein-Westfalen, dann ist diese Vorschrift , die eine online-Durchsuchung zuläßt, nichtig und darf nicht mehr angewandt werden. Entsprechendes gilt für Handlungen der Regierung wie den AWACs-Einsatz während des Irakkrieges über der Türkei. Dieser Einsatz ohne Zustimmung des Bundestages verstieß nach Feststellung des Bundesvefassungsgerichts gegen die Verfassung. Deshalb durfte er nicht stattfinden und hätte, wenn er noch andauern würde, sofort beendet werden müssen.
Auch eine Durchsuchung einer Wohnung, eine Festnahme oder das Andauern einer Haft, kann gegen Grundrechte aus der Verfassung verstoßen, selbst wenn solche Maßnahmen von Gerichten angeordnet wurden. Stellt das Verfassungsgericht einen Verstoß gegen die Verfassung im Einzelfall fest, wie es durchaus vorkommt, dann ist die Maßnahme - Durchsuchung oder Freiheitsentziehung - sofort zu beenden. Manchmal gibt das Gesetz auch einen Anspruch auf Schadensersatz. Aber strafbar sind solche Grundrechtsverletzungen in der Regel nicht, es sei denn, Gerichte oder Polizei haben gleichzeitig gegen entsprechende Strafgesetze gehandelt. Dann können Polizeibeamte wegen Freiheitsberaubung im Amt oder Richter wegen Rechtsbeugung bestraft werden. Meist sind aber einzelne Voraussetzungen für die Strafbarkeit wie etwa, daß vorsätzlich gehandelt und das Recht gebrochen wurde, nicht nachweisbar. Wenn Bürgerinnen und Bürger gegen Verfassungsgrundrechte handeln, etwa indem sie die Würde eines anderen Menschen nicht beachten (Art. 1 Grundgesetz) und beleidigen, oder den Körper oder die Gesundheit (Art. 2 GG) eines anderen verletzen, dann ist das strafbar, weil es im Strafgesetzbuch ausdrücklich als Straftat genannt ist.
Auch der Bundespräsident oder ein Mitglied der Bundesregierung müßte bestraft werden, wenn sie gegen ein Strafgesetz verstossen, etwa andere beleidigen oder am Körper verletzen.
So weit die Theorie. Denkbar wäre auch, durch Gesetz für strafbar zu erklären, wenn ein Minister oder eine ganze Regierung oder die Parlamentsmehrheit gegen einen Verfassungsartikel verstossen. Eine Strafbarkeit würde aber vermutlich meist am Nachweis einzelner Voraussetzungen der Strafbarkeit scheitern. Der Gedanke ist gar nicht so abwegig. In dem Fall der Vorbereitung eines Anriffskrieges, der nach Art. 26 Absatz 1 GG verfassungswidrig ist, gibt es eine Strafvorschrift im Strafgesetzbuch, die Freiheitsstrafen bis zu Lebenslänglich androht. Im Art. 26 Absatz 1 Satz 2 GG steht auch ausdrücklich, daß die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe zu stellen ist.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele