Frage an Hans-Christian Ströbele von Stefan G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ströbele,
was halten Sie von der Abänderung der Grundrechtecharta der EU durch den Lissabonner Vertrag, speziell bezogen auf Artikel 2:
„Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“.
(Quelle: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:DE:PDF )
Besonders Punkt c) beunruhigt mich etwas. Wer beurteilt denn gegebenenfalls, ob ein Aufstand rechtens ist oder nicht?
Vielen Dank im voraus und mit den besten Grüßen
Stefan Graser
Sehr geehrter Herr Graser.
Solche Vorschriften sind immer problematisch. Aber das Problem haben Sie häufig. Z.B. bei der Inanspruchnahme des Widerstandsrechts aus Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes oder bei der Auslegung von allgemeinen Rechtsbegriffen in Strafvorschriften etwa bei der Vorschrift zur Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Polizeibeamte, der ja dann nicht strafbar ist, wenn die "Diensthandlung nicht rechtmäßig ist" ( § 113 Absatz 3 Strafgesetzbuch). Wer beurteilt, ob die Diensthandlung rechtmäßig war, und vor allem wann? Das Gericht. Aber vor der Widerstandshandlung wird das kaum möglich sein, also erst nachträglich. Wer trägt dann das Risiko?
Einen besonderen Grund zur Beunruhigung wegen der von Ihnen genannten Vorschrift sehe ich nicht. Die Formulierung in der Grundrechtecharta ist nicht neu. Sie findet sich wortgleich in Artikel 2 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950. Sie ist seit 1952 geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland. Mir ist kein Anwendungsfall bisher bekannt. Beurteilt wird wie in den Fällen der Tötung im Rahmen von Notwehr oder einer Festnahme die Rechtmäßigkeit einer Tötung im Rahmen von Aufruhr und Aufstand in der Regel im Nachhinein durch ein Gericht.
Mit freundlichem Gruß
Ströbele