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Hans-Christian Ströbele
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Frage von Jonas D. •

Frage an Hans-Christian Ströbele von Jonas D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Ströbele,

meine Frage bezieht sich auf Videoaufnahmen während Demonstrationen und ich hoffe, dass Sie mir als Jurist vielleicht weiter helfen können.

Dass diese "Maßnahme" regelmäßig praktiziert wird, dürfte hinlänglich bekannt sein.
Abgesehen von der Tatsache, dass ich in einigen Fällen diese Maßnahmen schon aus grundsätzlichen Überlegungen ablehne (Abschreckung/Fernhalten von Bürgern von Versammlungen/Demonstrationen durch Erzeugung von Angst und präventiver Kriminalisierung. So waren während der jüngsten Anti-Atomkraft Demonstrationen immer wieder Beamte mit Videokameras zu sehen, obwohl es außer einer friedlichen Versammlung, an der ganze Familien teilnahmen, nichts zu filmen gab), würde mich die Rechtsgrundlage einer solchen Vorgehensweise sehr interessieren:

1. Ist diese in einem Bundesgesetz verankert oder Teil des jeweiligen Landesrechts (Versammlungsrecht)?
2. In der Regel wird mit einer Störung der "öffentlichen Ordnung" argumentiert. Können Sie mir sagen, wie dieser Begriff juristisch zu fassen ist?
3. Gibt es die Notwendigkeit einer Genehmigung zum Einsatz solcher Maßnahmen seitens der Polizei, oder steht sie den eingesetzten Beamten zur freien Verfügung? (Denn eigentlich bedarf es ja einer Abwägung gegen das Gut "Persönlichkeitsrecht", bzw. informationelle Selbstbestimmung und gegen die Folgen für eine im Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit)
4. Es gibt bereits, soweit mir bekannt ist, einschlägige Urteile, die sich mit diesem Konfliktfeld befasst haben. Trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass sich die Situation nennenswert verändert hat. Ist das so, wenn ja, warum?

Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Mühen und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg für Ihre politische Arbeit!

Mit freundlichen Grüßen,

Jonas Dohr

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Dohr,

Ihre Sorge um die Zunahme präventiv gefertigter Videoaufnahmen im öffentlichen Raum, u.a. durch die Polizei bei Demonstrationen, teile ich.

Rechtsgrundlage dafür sind primär die Versammlungsgesetze der Bundesländer, soweit diese solche erließen (z.B. Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bayern, Niedersachsen), andernfalls das nachrangige Bundesversammlungsgesetz,
http://de.wikipedia.org/wiki/Versammlungsgesetz_%28Deutschland%29
vor allem dessen §§ 12 a, 19 a
http://bundesrecht.juris.de/versammlg/__12a.html

Diese Befugnisse sind inzwischen durch mehrere Gerichte

a) Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 17.2.2009, BVerfGE 122, 342, 372 - 373
http://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=BVerfGE%20122,%20342

b) VG Berlin, Urteil vom 5.7.2010 – Gz. 1 K 905.09 - http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/portal/t/b9n/bs/10/page/sammlung.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE100068408&doc.part=L&doc.price=0.0

c) OVG Münster, Beschluß vom 23.11.2010, Az.: 5A 2288/09 (veröff.: 29.11.2010) http://www.ovg.nrw.de/presse/pressemitteilungen/26_101129/index.php

verfassungskonform wie folgt interpretiert worden:

Die Polizei darf eine friedliche Demonstration nicht vorsorglich filmen. Schon bloßes polizeiliches Beobachten einer Demonstration mit Kamera, die Übertragung der Bilder in die Einsatzleitstelle und das Anfertigen von Übersichtsaufnahmen greift in die Grundrechte der Teilnehmer aus Art. 8 und 2 GG ein, selbst wenn die Bilder nicht gespeichert werden. §§ 12a und 19a des (Bundes-)Versammlungsgesetzes rechtfertigen Übersichtsaufnahmen nur, wenn eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung von der Demonstration ausgeht. Wenn die Polizei Übersichtsaufnahmen von Versammlungen aufgrund deren Größe und Unübersichtlichkeit zu deren Lenkung und Leitung anfertigen will, bedarf dies gesonderter Rechtsgrundlage.

"Öffentliche Ordnung" bedeutet die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens.
http://www.rechtswoerterbuch.de/recht/o/oeffentliche-ordnung/

Jedoch begründet die Polizei ihre Videoaufnahmen, die durch die Einsatzleitung angeordnet werden müssen, meist mit drohenden Verletzungen der öffentlichen Sicherheit, also geschriebener Regelungen v.a. des Strafrechts.

Ich teile Ihren Eindruck, dass die Polizei noch nicht durchgängig gemäß o.g. Einschränkungen verfährt. Über die Gründe kann ich nur mutmaßen: die Polizei hat sich an eine weitergehende Praxis gewöhnt, und die erwähnten Gerichtsentscheidungen werden in Polizeikreisen etwa ihrer Gewerkschaften als wirklichkeitsfern kritisiert.

Jeder Demonstrant und jede Demonstrantin, die Polizei Videoaufnahmen fertigen sieht und die Voraussetzungen dafür verneint, hat grundsätzlich die Möglichkeit, sogleich vom Einsatzleiter Unterlassung zu verlangen sowie nachträglich die Rechtswidrigkeit der Maßnahme gerichtlich feststellen zu lassen. Auf diesem Weg kam es auch zu den oben unter b) + c) genannten Gerichtsentscheidungen.

Mit freundlichem Gruß
Ströbele